Gravitationsbiologie Wenn Sonnenblumen durchdrehen
Die Wurzeln wachsen nach links, das Grüne nach rechts - an der Uni Hohenheim bringen Forscher Pflanzen ins Rotieren und simulieren Schwerelosigkeit. Ihr Ziel: grüne Wände in grauen Städten und Rohkost im Weltall.
Schnurstracks wachsen die Sonnenblumen von Alina Schick von links nach rechts. Keine krümmt sich zum Licht - das ist in dem Gewächshaus der Universität Hohenheim ziemlich gleichmäßig verteilt. Dass die Pflanzen die Horizontale erobern und in den Raum hinein gedeihen, liegt an einer besonderen Konstruktion um die Blumentöpfe. "Durch sie nehmen die Pflanze die Schwerkraft nicht wahr - oder von allen Seiten", erklärt Biologin Schick.
Sie erforscht welche Rolle die Gravitation beim Wachstum der Pflanzen spielt. Schicks Arbeit hat ein Fernziel: Eines Tages sollen auch in der Schwerelosigkeit des Alls Pflanzen wachsen.
Die Konstruktion in der Schicks Sonnenblumen wachsen heißt Klinostat, seine Ursprungsform erfanden Forscher bereits vor gut 150 Jahren. Das Gerät rotiert den Topf horizontal um die eigene Achse. Kleine Schwerekörper wie Stärkekörner in den Pflanzenzellen, Statolithen, geraten ins Trudeln und werden je nach Tempo an die Außenwände geschleudert, oder berühren die Zellwände überhaupt nicht.
Das hebelt die Wahrnehmung der Pflanze für die natürliche Schwerkraft auf der Erde aus. Die Sonnenblume merkt nicht mehr, wo oben und unten ist, und wächst einfach geradeaus. Auch Hibiskus, Amaryllis und Gummibäume hat Schick schon erfolgreich in die Waagerechte wachsen lassen. Ein Weihnachtsstern hingegen ging ein. "Ich vermute, dass jede Pflanze eine eigene ideale Drehgeschwindigkeit hat." Vielleicht ging es dem Weihnachtsstern einfach zu schnell.
Bepflanzte Wände statt Klimaanlage
Für die Hohenheimer Forscher ist die horizontale Pflanzenzüchtung ein interdisziplinäres Projekt. Neben Biologen arbeiten Sensoriker und Physiker mit. Agraringenieur Torsten Müller interessiert vor allem die Frage der Nährstoffzufuhr und Wasserversorgung. Im Stuttgarter Gewächshaus führt ein Schlauch jedem Topf tröpfchenweise Wasser zu. In den Plastikhüllen sind dafür extra Schlitze. Die Wissenschaftler entwickeln gerade Einheiten, in denen neben Software auch ein Wassertank zur integrierten Bewässerung eingebaut wird. Das soll dann so schmuck aussehen, dass Kunden sich die Systeme an die Zimmerwand montieren.
Denn die wissenschaftliche Forschung - welche Rolle Gravitation neben Einflüssen wie Licht und Temperatur beim Pflanzenwachstum spielt oder ob das Drehen die Eigenschaften des Holzes verändert - ist nur eine Seite. Die waagerecht wachsenden Blumen sind auch ein Hingucker und passen in den Trend grüner Architektur. "Das ist in den Anfängen, gestalterisch sehr interessant", sagt der Hauptgeschäftsführer der Architektenkammer Baden-Württemberg, Hans Dieterle.
Zudem versprechen bepflanzte Wände Nutzen: Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit und Feinstaubwerte ließen sich damit regulieren. Ein Autobauer habe eine begrünte Wand sogar in einer Montagehalle eingerichtet, berichtet Dieterle. "Also da, wo es aufs Geld ankommt und nicht aufs gute Aussehen." Auch der Verband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau Baden-Württemberg spricht von einem Trend. "Die Leute wollen ein grünes Umfeld", sagt Vize-Chef Klaus Dobczynski.
Fernziel Weltraumpflanzen
Da kaum noch Platz in den Innenstädten bleibe, sei es nur logisch, "die Wände hochzugehen". Bislang werden die meist mit rankenden Pflanzen oder im Schichtsystem über etagenweise angebrachte Kästen begrünt. Schick sagt: "Wir wollen Pflanzen neue Räume bieten." Dazu hat sie das Unternehmen Graviplant gegründet und sucht Investoren, um in die Produktion zu gehen. Simulationen zeigen Bäume mit Stamm und Krone, die von einer Hauswand waagerecht ins Freie wachsen.
Dass das klappen kann, hat Schick schon 2009 bewiesen. In einer Waschmaschinentrommel züchtete sie einen Kirschbaum, der es immerhin auf 1,60 Meter brachte. Inzwischen sind ihre Aufbauten verfeinert und designt. Auf Messen wirbt Schick um Unterstützer und Kunden. 4000 Euro pro Baum-Einheit kalkuliert sie im Moment. Wann die ersten Bäume waagerecht von einer Häuserfront wachsen, ist noch unklar.
Schicks Projekt soll auch wissenschaftlich begleitet werden, um die Folgen für Smog und Klimatisierung nachzuweisen. Langfristig könnte die Arbeit im Weltraum Wurzeln schlagen. Auf der Raumstation Mir habe ihr Mentor Dieter Volkmann Versuche mit Pflanzen gemacht, sagt sie. "Ziel ist es irgendwann mal, in der Schwerelosigkeit anzupflanzen."
khü/dpa