
Unternehmerin Louise Verity: »Ich muss gestehen, dass es anstrengender ist, als ich dachte«
Foto: Clara Nebeling / DER SPIEGELVier-Tage-Woche in Großbritannien Frau Verity verändert die Arbeitswelt

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Das Ende des Unternehmens, wie Louise Verity es kannte, begann in der Kaffeeküche. Das zweite Jahre der Pandemie lag hinter ihr, aber die 39-Jährige spürte noch immer, wie ihre Firma während der Coronakrise ins Schwimmen geraten war: Liefertermine, Kundenbestellungen, Tagesabläufe – alles funktionierte plötzlich anders. In der Kaffeeküche redeten Verity und ihre Mitarbeiter über ihren Stress, die Zeitnot und darüber, dass sie sich mehr Freiraum wünschten.
Verity leitet Bookishly, einen Versandhandel mit Sitz in Northampton, zwei Stunden nordwestlich von London. Nach den Gesprächen in der Küche fragte sie sich, ob es nicht Zeit sei, Dinge zu verändern: die Arbeitszeit zum Beispiel. Die Erwartung, dass man fünf Tage in der Woche seinem Job unterworfen sein muss.
Seit Juni probieren sie es aus. Seitdem arbeitet das gesamte Team konzentriert an vier Tagen: Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag. Die anderen drei Tage sind frei, bei gleichem Gehalt. Kann das funktionieren?
Bookishly ist bei diesem Experiment nicht allein, sondern Teil eines historischen Modellprojekts. In ganz Großbritannien versuchen gerade 70 mittelständische Unternehmen, was lange nicht machbar oder naiv schien: Ihre Mitarbeiter sollen weniger Zeit auf ihrer Arbeitsstelle verbringen, aber nicht weniger verdienen. Daran beteiligt sind unter anderem eine Hipster-Brauerei, verschiedene IT-Unternehmen, eine Fish-and-Chips-Bude in Norfolk aber auch die Royal Society of Biology.
Experiment mit ungewissem Ausgang
Es ist nicht der erste, aber der bislang weltweit größte Versuch dieser Art. Ein Experiment mit vorerst sechs Monaten Laufzeit und ungewissem Ausgang. Damit es funktionieren kann, müssen die mehr als 3300 Mitarbeitenden der Firmen 100 Prozent Leistung in vier Fünftel der Zeit erbringen. Ist das wirklich besser? Oder am Ende nicht noch stressiger?
»Zwölf Jahre lang schien es mir, als sei ich eigentlich gar keine Chefin«, erzählt Louise Verity von Bookishly am Telefon. 2009 kam ihr die Idee, auf der Onlineplattform Etsy kleine Geschenkartikel zu vertreiben, Lesezeichen und Kerzen mit Buchzitaten. Es war eine Art Hobby, aus dem irgendwann die Selbstständigkeit erwuchs. Inzwischen hat Bookishly zehn Mitarbeitende, sie beliefern mit ihren Artikeln 450 Buchhandlungen weltweit.

Die Arbeitsräume von Bookishly sind halb Bastelladen, halb Lager
Foto: Clara Nebeling / DER SPIEGEL
Die leicht kitschigen Produkte des Unternehmens zieren auch die eigenen Wände
Foto: Clara Nebeling / DER SPIEGEL
Verity und Team in den Räumen des kleinen Unternehmens in Northampton
Foto: Clara Nebeling / DER SPIEGELDer zwischenmenschliche Umgang, sagt Verity, sei immer freundschaftlich gewesen. Von ihren Angestellten spricht sie wie von Bekannten. Da ist Beth, die sich um das Marketing kümmert. Sue, die Älteste, die das Büro managt. Jamie, der gelernte Rahmenbauer, der mit seinem Geschick jetzt neue Produkte von Hand fertigt. Sie alle haben auf der Homepage von Bookishly eigene kleine Biografien bekommen. Es ist ein kreatives, etwas verträumtes Unternehmen. Auf der Internetseite stehen hinter den Namen der Angestellten die jeweiligen Schulhäuser in Hogwarts, dem Zauberinternat von Harry Potter.
Die meisten Mitarbeiter von Bookishly wollen demnach nach Hufflepuff. Im Harry-Potter-Fanlexikon liest man, dass sich das Haus »besonders durch treue Freunde auszeichnet, aber auch Schüler, die willig sind, zu lernen«. Braucht es das alles, um die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen? Wohl kaum. Hilfreich ist der Mut zum Ungewöhnlichen allemal.
Verity sagte ihrem Team gleich zu Beginn des Experiments, dass niemand ein Anrecht darauf habe, dauerhaft vier Tage zu arbeiten. Aber man wolle es versuchen, auch wenn man vielleicht scheitert. Dennoch waren alle dafür.
Weniger Stress, weniger Burn-outs, mehr Effizienz
Initiiert hat das Modellprojekt eine Gruppe von Stiftungen und progressiven Aktivistinnen . Wissenschaftler der Universitäten Oxford und Cambridge begleiten die Firmen und sollen die Auswirkungen ihrer Reformen untersuchen. Joe O’Connor ist der Cheforganisator, im früheren Leben war er Gewerkschaftssekretär und Campaigner, also Berufsaktivist für professionelle Kampagnen. Vielleicht auch, um nicht in den Verdacht linker Träumereien zu geraten, trägt er nun den Titel eines CEOs – eines Geschäftsführers. Nur, dass er jetzt daran arbeitet, die bisherige Arbeitsverteilung abzuschaffen.
Tatsächlich geht es in dem Projekt vor allem darum, Unternehmen anzusprechen; zu zeigen, dass weniger Arbeit für alle Seiten etwas Nützliches bewirken könnte. Finanziell gibt es dafür keine Anreize, doch offensichtlich versprechen sich die Firmen auch etwas davon. Weniger Stress, weniger Burn-outs, mehr Effizienz. Studien zeigen seit Jahren regelmäßig, wie viel Lebenszeit in sinnlosen Meetings und mit Nichtstun vergeudet wird, sagt, O’Connor, der Cheforganisator. Und wie sehr viele Menschen darunter leiden, nicht ehrlicher und fokussierter arbeiten zu können. »Wir helfen den Unternehmen, das hinter sich zu lassen.«
Das erste Unternehmen gibt bereits auf
Für den britischen Boulevard ist der Versuch dennoch seit Wochen ein Aufreger. Nach noch nicht einmal einem Monat veröffentlichte die »Daily Mail« hämisch den ersten Verriss. Unternehmer bekundeten in dem Artikel, dass weniger Arbeit zum Nichtstun einlade oder schlicht unsozial sei. Charlie Mullins, Chef von Großbritanniens größtem Sanitärbetrieb, ließ sich damit zitieren, das Vorhaben sei lächerlich.
Klar scheint, dass der Versuch bislang nicht so einfach ist, wie von manchen Unterstützern gedacht. Ein großes Hindernis sei, so mehrere Beteiligte, dass man weiterhin in einer Fünf-Tage-Arbeitswelt stecke. Absprachen würden schwieriger, der Alltag noch mehr mit Terminen vollgestopft. Ein erstes Unternehmen kündigte bereits an, das Experiment vielleicht nicht fortzusetzen. Andere berichten dagegen von »überwältigend positiven« Rückmeldungen und mehr Produktivität. »Wir sind auf einem guten Weg«, versichert Joe O’Connor.
Historisch war die Fünf-Tage-Woche selbst so etwas wie ein Experiment. Bis sie sich weltweit etablierte, dauerte es lange. Bis zum frühen 19. Jahrhundert gab es nur einen Erholungstag pro Woche, dann forderten britische Arbeiter einen zweiten. Später etablierten Unternehmen in Neuengland den freien Samstag für jüdische Mitarbeiter, 1926 führte auch Henry Ford ihn ein. Fest etabliert wurde er in Deutschland erst in der Nachkriegszeit.
Die Vier-Tage-Woche soll auch nach Deutschland kommen
Bei der Vier-Tage-Woche soll es nun schneller gehen. Joe O’Connor plant bereits einen Modellversuch in Deutschland. In Neuseeland und Australien hat gerade ein ähnliches Experiment begonnen, in Nordamerika ist eines in Planung. »Derzeit sind wir auf der Suche nach deutschen Unternehmen, die sich beteiligen«, sagt O’Connor. Atemlos verspricht er, erste Details würden in Kürze kommuniziert.
Louise Verity kennt inzwischen die Herausforderungen der Vier-Tage-Woche. Die Urlaubszeit mussten sie in diesem Jahr länger diskutieren: Weil die Mitarbeiter unter der Woche weniger Leerlauf und mehr Termine haben, ist es schwieriger geworden, Kollegen zu ersetzen, die im Urlaub sind. »Ich muss gestehen, dass es anstrengender ist, als ich dachte«, sagt sie. »Weniger Arbeit bedeutet erst einmal, mehr organisieren zu müssen.«
Zu Weihnachten arbeiten sie wie früher, anders geht es nicht
Von Anfang an hatten sie und ihr Team den dritten freien Tag auf den Mittwoch gelegt. Nur so ließ sich sicherstellen, dass Bestellungen sich nicht über das Wochenende auftürmen, dass das Team sich gemeinsam freinehmen kann, anstatt ständig füreinander einspringen zu müssen.
Nun, einige Monate nach Beginn des Experiments, ist für Verity klar, dass sie in absehbarer Zeit pausieren muss. Im November und Dezember steht ein Großteil des Jahresgeschäfts an, Bestellungen für Weihnachten werden angenommen. Unmöglich, das Unternehmen in dieser Zeit jeden Mittwoch zu schließen. Für einige Wochen werden sie deshalb zur Fünf-Tage-Woche zurückkehren. Aber danach, sagt Louise Verity, sollen die Angestellten bei Bookishly dauerhaft wieder drei Tage pro Woche freihaben. »Es ist die richtige Sache. Wir ziehen das durch.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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