
Frauenstimmrecht in der Schweiz Mein Leben als Nummer zwei


Edi Engeler / AP
Auf der Steuererklärung meines Heimatkantons sind zwei Spalten. Die erste ist für »Ehemann / Einzelperson / P1«, die zweite daneben für »Ehefrau / P2«. P steht für Person.
Dass der Mann als Erstgenannter figuriert, ist bis heute in vielen Ländern üblich. Aber in kaum einem anderen Land ist die Bezeichnung »Person 2« für die Frau passender als in der Schweiz.
Als Frau ist man die Zweitgenannte, die Zweitwichtige, die mit dem Zweiteinkommen, dem Zweitdasein als Appendix der Hauptfigur, ein politischer und wirtschaftlicher Blinddarm. Die Schweizerin bekommt weniger Lohn für gleiche Arbeit, weniger Rente als ihr Mann, und bei einer Scheidung kann sie hoffen, nur in die Armut abzugleiten und nicht in ein Beziehungsdrama. So heißen in hiesigen Medien innerfamiliäre Femizide.
Trotzdem kann die Schweizerin zufrieden sein, denn auch als Zweitperson genießt sie Rechte wie das Wahl- und Stimmrecht, das ihr 1971 zugestanden wurde, als einer der letzten in Europa. Das musste zuvor in einer Volksabstimmung beschlossen werden, die fälschlicherweise so hieß, da nicht das Volk abstimmte, sondern die Schweizer Männer. Bis sie ihre Frauen in die Politik ließen, dauerte es mehr als ein halbes Jahrhundert länger als in Deutschland, das immerhin schon 1918 so weit war.
Der sture Schweizer Kanton Appenzell Innerrhoden folgte erst 1990, er musste vom Bundesgericht gezwungen werden, den Frauen auch auf kantonaler Ebene das Stimm- und Wahlrecht zu erteilen. Freiwillig machte hier keiner Platz.
Als Fürsorge kaschierte Unterdrückung
50 Jahre mögen nach einer empörend kurzen Zeitspanne klingen, aber wenn man bedenkt, dass ein Geschirrspüler nach rund 20 Jahren den Geist aufgibt, reden wir hier von dessen zweieinhalbfacher Lebenserwartung. Oder wie es Ueli Maurer, einer der sieben Bundesräte in der Schweizer Regierung, im Jahr 2014 formulierte: »Wie viele Gebrauchsgegenstände, die 30 Jahre alt sind, haben Sie noch zu Hause? Bei uns sind das nicht mehr viele, außer natürlich die Frau, die den Haushalt schmeißt.« Mit diesem Bonmot warb er für den Kauf neuer Kampfflugzeuge für die Schweizer Armee.
Dem Eidgenossen ist nichts heiliger als seine Wehrhaftigkeit, ob gegen Habsburger, Flüchtlinge, Müllsünder oder Gendersterne.
Historisch waren die Bürgerrechte in der Schweiz eng an die Wehrpflicht geknüpft. Wer bereit und befugt war, mit der Waffe gegen den Feind ins Feld zu ziehen, durfte auch in der Politik mitreden. Dass sich Frauen weniger gegen fremde Vögte als vielmehr gegen die Gesetze ihres eigenen Landes zur Wehr setzen mussten, wurde gern übersehen. Den Schutz der Frau übernahmen Vater, Ehemann oder Staat – und beschützten sie vornehmlich vor sich selbst.

50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz
Die als Fürsorge kaschierte Unterdrückung der Frau hat in der Schweiz eine lange Tradition. Man will sie ja nicht alle 30 Jahre erneuern müssen. Nur zu ihrem eigenen Schutz, und damit sie sich zwischen Herd, Wochenbett und Wahlurne nicht übernahm und vorzeitig ausleierte, ersparte man ihr lange Zeit die Bürde der Politik.
Unverheiratet, weiblich, arm – eine gefährliche Kombination
Und nur zu ihrem eigenen Vorteil weigerte man sich bis 1992, Vergewaltigung in der Ehe als Delikt anzusehen – damit war die Schweiz zur Abwechslung fünf Jahre vor Deutschland. Davor galten durch den Ehemann begangene Sexualdelikte als Erfindung ausgetrockneter Emanzen, die nur neidisch waren, selbst nichts zwischen die Schenkel zu kriegen, und dafür belächelt wurden, noch im hohen Alter auf Formularen die Anrede »Fräulein« ankreuzen zu müssen, was sie als unbemannte Station auswies, die führungslos durch Galaxien trieb, während ihr Schoß vergessen und unangetastet vor sich hin schimmelte.
Als besondere Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung galt in der Schweiz für lange Zeit die Kombination von unverheiratet, weiblich und arm.
Bis in die Siebzigerjahre hinein wurden mittellosen, ledigen oder minderjährigen Müttern die Kinder weggenommen und fremd platziert. Zwangssterilisationen waren nicht selten. Diese »fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen« sind als eines der unrühmlichsten Kapitel in die neuere Geschichte der Schweiz eingegangen. Aber damals, in den Siebziger- und Achtzigerjahren, wurden wir Schulmädchen, zu unserem eigenen Schutz und Vorteil, davor gewarnt, »so eine« zu werden und vom richtigen Weg abzukommen.
In der Oberstufe waren für uns Mädchen die Fächer Hauswirtschaft und Handarbeit Pflichtfach, während es für die Jungs Geometrie war, das uns ebenfalls offen stand, aber als Freifach. Da wir bereits mit unserem Pflichtprogramm auf erheblich mehr Wochenstunden als die Jungs kamen, belegten es die wenigsten von uns.
Niemand hatte uns gesagt, dass Geometrie für den anschließenden Besuch des Gymnasiums zwingend vorausgesetzt wurde.
Auch 40 Jahre später verdienen wir weniger
Während wir Mädchen nähend, stickend und Marmelade einkochend unserem Leben als Person 2 entgegengingen, vermaßen die Jungs mit dem Geodreieck ihre Möglichkeiten. So geht natürliche Selektion. Dieses Schulgesetz wurde erst 1982 gekippt, ein Jahr nachdem in der Verfassung der Grundsatz der Lohngleichheit verankert wurde, das jene unter uns, die sich der Tragweite dieses Gesetzes bewusst waren, aufatmen und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken ließ.

Frauenstreik in Zürich 2019: Eine halbe Million Schweizerinnen demonstrierten für mehr Gleichberechtigung
Foto: GFC Collection / imago imagesWir wussten damals noch nicht, dass wir auch 40 Jahre später weniger als Männer verdienen würden, weitgehend allein für die Kindererziehung und die Pflege der Alten verantwortlich sein, und dass uns im Gegenzug dafür der Zugang zu Führungspositionen erschwert, wir aber auf Schritt und Tritt für unser Aussehen und unseren Lebenswandel gemaßregelt werden sollten.
Das alles ist nicht nur in der Schweiz so, aber wir haben das Glück und das Pech, eines der reichsten Länder der Welt zu sein, wo alles, was wir an Forderungen hervorbringen, als Luxusproblem von Menschen belächelt wird, die das wahre Leben nicht kennen.
So gesehen ist das Erstaunliche an der Bezeichnung »Person 2« in meiner Steuererklärung vielleicht gar nicht die Zahl 2, sondern die Tatsache, dass eine Frau in der Schweiz bereits als Person gilt.
Anmerkung: In einer früheren Version wurde ein Zitat Ueli Maurers auf das Jahr 2018 datiert, tatsächlich stammt die Aussage aus dem Jahr 2014. Wir haben den Fehler korrigiert.