Aktivistinnen gegen drakonische Gesetze auf Malta Abtreibungsversuche mit dem Kleiderbügel

»Jeder soll sehen, was in Malta passiert«, sagt die feministische Aktivistin Liza Caruana-Finkel
Foto: Liza Caruana-Finkel
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Im Frühjahr 2020 lähmt eine unheimliche Pandemie die ganze Welt, und Lusy Abela macht einen Schwangerschaftstest. Ergebnis: positiv. Sie ist starr vor Angst.
Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder will nicht noch ein Baby bekommen, finanziell wäre das nicht zu stemmen. Ihr damaliger Freund, so erzählt sie es, möchte weder das Kind, noch unterstützt er sie. Sie beginnt zu googeln, sucht unter »Abtreibung« nach einem Ausweg.
Lusy Abela heißt eigentlich anders, aber möchte anonym bleiben. Die 37-jährige Finanzprüferin hat Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen, erzählt sie bei einem Zoom-Gespräch. Denn Lusy lebt in Malta. Dem Land mit dem strengsten Abtreibungsgesetz der EU. Malta ist der einzige EU-Staat, in dem Schwangerschaftsabbrüche komplett verboten sind.

Malta: Wer abtreibt, riskiert eine Gefängnisstrafe
Foto: Sean Gallup / Getty ImagesDas gilt auch dann, wenn die Schwangere vergewaltigt wurde, das Kind sehr krank, schwerbehindert oder nicht lebensfähig ist und sogar, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Ein Verstoß kann mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Weltweit gibt es nicht einmal 20 Staaten mit einer ähnlich strikten Regelung.
In Malta leben rund 500.000 Menschen. Gefühlt kenne jeder jeden, sagt Lusy. Wer abtreibt, wird sozial geächtet und verurteilt. Immer wieder bittet Lusy darum, in diesem Text nicht erkennbar zu sein. Sie hat Angst vor einer Gefängnisstrafe.
Der Katholizismus ist Staatsreligion in Malta, und er bestimmt das Leben auf der Insel: Sex ist ein Tabuthema und etwas, das man zu Hause in der Ehe haben soll. Sexualaufklärung findet in der Schule nur begrenzt statt. Im Medizinstudium wird das Thema Abtreibung ignoriert. Ungewollt Schwangere, die Hilfe bei Ärztinnen und Ärzten suchen, werden verurteilt oder dazu gezwungen, das Kind zu behalten.

Katholizismus ist Staatsreligion und Pro-life-Aktivistinnen sind in Malta sehr aktiv
Foto: Darrin Zammit Lupi / REUTERSFrauen, die sich das leisten können, fahren für einen Schwangerschaftsabbruch ins Ausland und lassen dort in einer Privatklinik eine Abtreibung vornehmen. Aber wie ausreisen, wenn wegen Corona die Grenzen dicht sind? Und sowieso: Das Geld dafür hätte Lusy auch ohne Lockdown nicht gehabt. Bis zu 1800 Euro kostet ein Schwangerschaftsabbruch beispielsweise in Großbritannien, zuzüglich Reise- und Hotelgebühren.
Lusy ist schon länger Mitglied der Facebook-Gruppe »Women for Women (Malta)«. Rund 40.000 Frauen sind hier unter sich. Über die Gruppe findet Lusy die Website der »Doctors for Choice «, einer Gruppe von Ärzten, die für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kämpft. Im Internet klären sie auf über Verhütung, weibliche Gesundheit und Abtreibung.
Eine von ihnen ist Natalie Psaila. Die Allgemeinmedizinerin hat »Doctors for Choice« mitgegründet. Um Abtreibungen zu enttabuisieren und für die Autonomie von Frauen einzustehen. »Abtreibung bedeutet für mich Freiheit. Die Wahl zu haben, selbst über meinen Körper bestimmen zu können. Mein Leben so zu leben, wie ich es will«, sagt die 35-Jährige im Zoom-Interview. »Deshalb bin ich Pro Choice.«
Vor der Pandemie gingen sie auf Demonstrationen, erzählt Psaila. Die NGO organisiert Infoveranstaltungen über Sex und Verhütung. Im Lockdown aber sei es schwierig, an Frauen heranzukommen. Deshalb bieten sie telefonische Beratung an für ungewollt Schwangere und Frauen, die diskriminiert, belästigt oder vergewaltigt wurden.
Die »Doctors for Choice« leiten Lusy weiter: an »Women on Web «. Die gemeinnützige Organisation vermittelt ungewollt schwangeren Frauen Abtreibungspillen. Das Angebot gilt für Frauen, die in Ländern leben, in denen ihnen der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen verwehrt wird. Die Webseite ist in 26 Sprachen verfügbar. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl kommen die meisten Anfragen aus Südkorea, Polen und: Malta. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft die medizinische Abtreibung mit Tabletten bis zur zwölften Schwangerschaftswoche als sicher ein.

Ärztin Natalie Psaila, 35: Pro Jahr Hunderte »illegale« Schwangerschaftsabbrüche auf Malta
Foto: Natalie PsailaLusy füllt einen Fragebogen aus. Woche der Schwangerschaft? Vorerkrankungen? Zyklusverlauf? 37 Fragen insgesamt. Medizinisches Fachpersonal wertet die Antworten aus. Die Pillen werden anschließend per Post versandt. Eine Spende in Höhe von 90 Euro wird empfohlen, ist aber freiwillig.
In normalen Zeiten garantiert »Women on Web« eine Lieferung der Tabletten binnen maximal zwei Wochen. Jedoch nicht während einer Pandemie. Flüge werden gecancelt, Lieferketten sind unterbrochen und Lusy bangt Tag für Tag um das Päckchen. »Das Warten auf die Pillen war fast das Schlimmste. Ich hatte eine Riesenangst, sie würden zu spät ankommen. Ich habe minütlich die Paketnachverfolgung am Handy aktualisiert«, erzählt sie.
Achte Schwangerschaftswoche, Mitte April. Das Päckchen ist angekommen. Lusy hat per E-Mail eine Anleitung erhalten. Die Tabletten soll sie oral, nicht vaginal einnehmen. So kann der Wirkstoff nicht im Blut nachgewiesen werden, »falls es zu Komplikationen kommt«. Die Blutungen wirken so wie eine natürliche Fehlgeburt.
Eine Pille Mifepriston und 24 Stunden später vier Pillen Misoprostol. Lusy hat sich ihrer Cousine und einer Freundin anvertraut. Die beiden begleiten sie durch die Prozedur. Niemand sonst weiß von ihrem Plan. Die Einnahme der Tabletten ist in Malta illegal.
Es kommt zu Komplikationen. Lusy muss sich übergeben, spuckt die Pillen aus. Sie blutet ohne Unterbrechung, muss schließlich ins Krankenhaus. Sie wird behandelt, kann schon bald wieder nach Hause. Die Blutungen halten noch einige Wochen an. »Ich habe mich während all der Wochen seit dem Schwangerschaftstest so allein gefühlt wie noch nie«, sagt Lusy heute.
Geschichten wie die von Lusy sammelt Liza Caruana-Finkel mit dem Hashtag #breakthetaboo. Die feministische Aktivistin hat die Website Break the Taboo Malta gegründet, auf der Frauen ihre Erfahrungen teilen können. »Es geht darum, die Geschichten der Frauen sichtbar zu machen. Jeder soll sehen, was in Malta passiert«, sagt die 34-Jährige. So berichten Frauen von Versuchen, mit einem Kleiderbügel abzutreiben. Ungewollt schwangere Touristinnen schildern, wie sie während des Corona-Lockdowns auf der Insel strandeten und allein auf sich gestellt waren.

Pride-Parade in Maltas Hauptstadt Valletta im September 2018: Das Land hat einige der progressivsten LGBTQI-Gesetze der Welt – doch beim Thema Abtreibung gelten die strengsten Gesetze in der EU
Foto: DARRIN ZAMMIT LUPI / REUTERSMalta ist ein Land der Gegensätze. Es hat einige der progressivsten LGBTQI-Gesetze der Welt. Seit 2015 können Volljährige ihre Geschlechtsbezeichnung selbst wählen. Männlich, weiblich, divers – es genügt das Ausfüllen eines Formulars bei der zuständigen Behörde. Die Ehe für alle wurde 2017 eingeführt. Was die Selbstbestimmungsrechte von Frauen angeht, ist das Land allerdings alles andere als fortschrittlich.
Theresa Galea Testa sieht das anders. Sie ist maltesische Gynäkologin und Abtreibungsgegnerin. Die 51-Jährige bezeichnet sich als Pro-Life-Aktivistin und Feministin. »Menschliches Leben beginnt mit der Empfängnis«, sagt sie. Ein Schwangerschaftsabbruch sei das Gegenteil von Feminismus, weil er wider die Natur des weiblichen Körpers sei. Es sei grauenvoll, seine Nachkommen zu töten. »Wir Menschen sollten nicht über Leben und Tod urteilen. Insbesondere ich als Ärztin habe den Auftrag, Leben zu schützen«, sagt Testa.
Es sind Menschen wie Testa, vor denen Lusy sich fürchtet. Von ihnen werde sie verurteilt für das, was sie getan habe, sagt sie. Man könne niemandem vertrauen in Malta. Bis heute, fast ein Jahr später, hat Lusy weder ihrer Familie noch ihren Freunden oder Arbeitskolleginnen von ihrem Schwangerschaftsabbruch erzählt. Dennoch bereue sie nichts. »Ich würde es wieder tun. Die Abtreibung war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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