Präsident von Ärzte ohne Grenzen über humanitäre Einsätze »Wir durften einen Jungen mit Schusswunde nicht transportieren. Er starb«

Sie erhalten keinen Zugang zu Konfliktgebieten oder dürfen bestimmte Menschen nicht behandeln: Hier beschreibt der Ärzte-ohne-Grenzen-Chef, wie seine Arbeit behindert wird – und warum Geld nicht das Problem ist.
Ein Interview von Nicola Abé, São Paulo
Christos Christou ist Chirurg und internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen

Christos Christou ist Chirurg und internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen

Foto: Diego Baravelli
Globale Gesellschaft

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SPIEGEL: Herr Christou, die Welt erlebt derzeit eine Situation, in der verschiedene Krisen wie Kriege, Pandemie und Klimawandel gleichzeitig stattfinden. Was bedeutet das für Ihre Organisation?

Christos Christou: Für uns ist alles sehr viel komplizierter geworden. Die Krisen überlappen sich, interagieren, so entsteht eine Art perfekter Sturm. Man kann das etwas am Beispiel Haitis beschreiben. Dort herrscht ein bewaffneter Konflikt, der zur Folge hat, dass viele Menschen kaum mehr Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Die allgemeine Gesundheit und die hygienischen Bedingungen haben sich drastisch verschlechtert. Und nun grassiert dort plötzlich Cholera. Oder blicken wir nach Somalia: Dort beobachten wir Extremwetter, Dürren und Mangelernährung. Hinzu kommen der bewaffnete Konflikt und der dadurch eingeschränkte Zugang zu medizinischer Versorgung. So entsteht ein Teufelskreis, den wir nur brechen können, wenn wir uns auf humanitäre Hilfe konzentrieren, auf die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen.

Zur Person

Christos Christou, geboren 1974 in Trikala, Griechenland, ist Chirurg und internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen. Er hat sich auf Notfallchirurgie und Transplantationsmedizin spezialisiert. 2002 kam er zu Ärzte ohne Grenzen und arbeitete zunächst mit Flüchtlingen und Migranten. Es folgten Kriseneinsätze in Sambia, dem Südsudan, Irak und Kamerun.

SPIEGEL: Sollen die Geberländer der internationalen Gemeinschaft sich mehr auf Nothilfe konzentrieren – und die klassische Entwicklungshilfe erst mal hinten anstellen?

Christou: Angesichts der vielen Krisen der Gegenwart glaube ich, dass wir humanitäre Hilfe und Nothilfe priorisieren sollten. Anstatt umfassende Lösungen zu suchen, also die wirtschaftliche Entwicklung zu stärken oder dauerhaften Frieden zu schaffen, geht es jetzt darum, zuallererst den Zugang zu betroffenen Menschen zu erhalten und humanitäre Hilfe zu leisten, die im Moment am dringendsten gebraucht wird.

SPIEGEL: Inwieweit trägt die Covidpandemie zur Verschlechterung der humanitären Situation weltweit bei?

Christou: Während der Pandemie waren wir extrem besorgt. Wir haben gesehen, dass sich Regierungen fast ausschließlich auf das Coronavirus konzentriert haben. Vernachlässigt wurden die grundlegendsten Dinge: Zugang zu sauberem Wasser etwa; die Behandlung von chronisch kranken Menschen wurde eingestellt, die etwa mit HIV oder Tuberkulose infiziert sind; Impfkampagnen für Kinder wurden ausgesetzt. Die Diskussion um die Coronaimpfstoffe hat eine Impfskepsis befördert, die nun auch auf andere, lebensrettende Vakzinen abfärbt. Derzeit sehen wir Ausbrüche von Krankheiten, von denen wir glaubten, dass sie unter Kontrolle gebracht waren: Polio taucht in verschiedenen Ländern auf. In Somalia haben wir einen Ausbruch von Masern. Wir müssen unsere Impfkampagnen dort ausweiten, auch über Fünfjährige müssen jetzt geimpft werden. Aber es gibt diverse Faktoren, die Impfkampagnen erschweren, im Tschad etwa wurden sie ausgesetzt, weil kaum mehr Benzin erhältlich ist. So wirkt sich dann wiederum der Krieg in der Ukraine auf andere Krisenherde aus.

Eine Mutter im äthiopischen Tigray hält die Hand ihrer mangelernährten Tochter

Eine Mutter im äthiopischen Tigray hält die Hand ihrer mangelernährten Tochter

Foto:

Ben Curtis / AP

SPIEGEL: Sind es hauptsächlich solche logistischen Probleme, die Ihre Arbeit erschweren?

Christou: Früher war das so. Heute aber heißt unsere größte Herausforderung: Zugang. Es wird immer schwieriger für uns, mit Regierungen oder auch bewaffneten Gruppen zu klären, was wir wo machen dürfen. Aber auch, sie davon zu überzeugen, dass wir nur da sind, um Verletzungen zu behandeln. Es gibt viele Gebiete, zu denen wir gerade leider gar keinen Zugang haben, beispielsweise die Region Tigray in Äthiopien. Ebenso Teile von Syrien. Wir verhandeln mit den Regierungen darüber, aber bisher haben wir nicht die Erlaubnis, dort zu helfen. Wir respektieren die Souveränität der Staaten, die alles kontrollieren wollen, auch die Hilfsleistungen. Aber in Konfliktregionen verteidigen wir auch die Rolle der Humanität, die über die Staaten hinausgeht und von allen Parteien respektiert werden muss. Wir haben uns als Weltgemeinschaft aus den schmerzvollen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts heraus auf bestimmte Konventionen geeinigt. Das Prinzip, dass der Arzt deines Feindes nicht dein Feind ist, ist dabei ein sehr wichtiger Grundsatz.

SPIEGEL: Und er gilt nicht mehr?

Christou: Das Humanitäre wird weniger respektiert. Leider hat sich in vielen Ländern ein antihumanitäres Narrativ durchgesetzt. In Äthiopien wurden Uno-Mitarbeiter ausgewiesen, kurz nachdem der Konflikt begann, und zu unerwünschten Personen erklärt. Helfer wurden nicht mehr als neutral wahrgenommen, sondern als verdächtig, als Verräter. In der Region Tigray wurden daraufhin drei unserer Mitarbeiter 2021 gezielt ermordet. In Nigeria und Mali gibt es die antihumanitäre Rhetorik ebenfalls, eine Organisation wie unsere, die unter französischem Namen läuft [Médecins sans frontières, kurz MSF], ist dort erst recht umstritten. Unsere Gesundheitszentren werden angegriffen. In Syrien wurde eines unserer Krankenhäuser bombardiert. 2015 wurde unser Krankenhaus in Kunduz, Afghanistan, durch einen amerikanischen Luftangriff zerstört, Kollegen und Patienten starben. Eine unabhängige Untersuchung wurde verhindert.

Eine afghanische Mutter bettelt auf der Straße in Kabul

Eine afghanische Mutter bettelt auf der Straße in Kabul

Foto: Scott Peterson / Getty Images

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Christou: Was sicher nicht hilft, ist das gesamte Anti-Terrorismus-Narrativ. Rebellen werden zu Terroristen erklärt. Oder Konfliktparteien erklären sich gegenseitig zu welchen. Wer ihnen dann hilft, indem er humanitäre Hilfe leistet, kann kriminalisiert werden, obwohl er nur Patienten versorgen will. Wir humanitären Helfer gelten auch schnell selbst als Terroristen. Während der Zeit der Trump-Regierung durften wir im Jemen der hungernden Bevölkerung, die im Huthi-Gebiet lebt, noch nicht einmal Lebensmittel zukommen lassen – sie alle waren von der saudi-arabischen Seite, die von den USA unterstützt wird, als Terroristen geframed worden .

SPIEGEL: Haben Sie persönlich schon solche Schwierigkeiten erlebt?

Christou: 2019 war ich als Chirurg in einem Gebiet in Kamerun, das unter der Kontrolle der Rebellengruppe Ambazonia Boys stand. Die frankofone Regierung negiert, dass es einen Konflikt gibt und betrachtet die anglofonen Rebellen als Terroristen. Wir wollten sicherstellen, dass die Bevölkerung zumindest Zugang zur grundlegendsten Versorgung hatte. Ich operierte Kleinkinder mit Blinddarmentzündung. Eines Tages kam ein Junge mit einer Schusswunde. Für mich war er ein Patient, kein Kämpfer. Ich wollte ihn operieren. Aber wir mussten jede unserer Fahrten mit dem Krankenwagen anmelden, sonst wurden wir beschuldigt, geheim im Land zu agieren. Wir durften den Jungen nicht transportieren. Uns war es verboten, Menschen zu behandeln, die irgendetwas mit dem Konflikt zu tun hatten. Der Junge starb. Wir haben in Kamerun nun mehrere Fälle von Kollegen, die vor Gericht stehen, nur weil sie ihre Pflicht als Ärzte getan haben.

Helfer der Organisation Ärzte ohne Grenzen bringen eine Patientin von einem Zug, der aus Donezk kam, in einen Krankenwagen in Lwiw

Helfer der Organisation Ärzte ohne Grenzen bringen eine Patientin von einem Zug, der aus Donezk kam, in einen Krankenwagen in Lwiw

Foto: YURIY DYACHYSHYN / AFP

SPIEGEL: Wie ist die Situation für Ihre Organisation in der Ukraine?

Christou: Dort war es zu Beginn für uns ebenfalls sehr kompliziert. Beide Seiten wollten, dass wir Partei ergreifen. Ich musste erklären, dass wir nicht solidarisch sind gegenüber Staaten oder Fahnen, sondern nur gegenüber Menschen, die die Leidtragenden sind in einem Krieg. Wir bringen medizinische Güter in unterversorgte Gegenden der Ukraine, evakuieren Menschen mit unserem Zug und bieten psychosoziale Hilfe und Rehabilitationsmedizin an. Wir operieren auch Verwundete, aber keine verletzten Soldaten. Beide Seiten behandeln diese unter strenger Geheimhaltung. Auch in der Ukraine ist der Zugang schwierig und eine Frage ständiger Verhandlungen, vor allem in den von Russland besetzten Gebieten.

SPIEGEL: Hilfsorganisationen beklagen derzeit vor allem, dass Ihnen finanzielle Mittel fehlen. Sind Sie davon auch betroffen?

Christou: Internationalen Organisationen fehlen Milliarden, um angesichts der vielen Krisen grundlegendste Nothilfe zu leisten – zusätzlich sind die Geberländer sehr auf den Krieg in der Ukraine fokussiert. Die Not in Afghanistan etwa wird völlig vernachlässigt. Ärzte ohne Grenzen ist tatsächlich in einer anderen Situation: Dank der Großzügigkeit und des Vertrauens von sieben Millionen Privatpersonen, die uns trotz der steigenden Lebenshaltungskosten weiter vertrauen und uns finanziell unterstützen, können wir unsere humanitäre Hilfe fortsetzen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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