Kampf gegen Tuberkulose in Äthiopien Ratten als Retter

An Tuberkulose sterben mehr Menschen als an Aids und Malaria zusammen. Dabei ist die Infektion heilbar - wenn sie erkannt wird. In Äthiopien setzt man dabei auf ungewöhnliche Spürnasen.
Aus Addis Abeba, Äthiopien, berichten Sophia Bogner und Paul Hertzberg
Die Ratten von Apopo arbeiten nur jeweils eine halbe Stunde am Stück. Danach werden sie von Mitarbeiterinnen der NGO zurück in ihr Gehege getragen

Die Ratten von Apopo arbeiten nur jeweils eine halbe Stunde am Stück. Danach werden sie von Mitarbeiterinnen der NGO zurück in ihr Gehege getragen

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Zacharias Abubeker

In einem kleinen Labor am Rande von Addis Abeba retten sie Menschenleben - zwei Frauen in weißen Kitteln, eine Frau mit Klemmbrett und eine große, braune Ratte namens Maliwaza. Die Ratte sitzt auf einer Edelstahlplatte mit zehn runden Löchern. Es ist ein Montagnachmittag, und Maliwaza ist gerade erst aufgewacht. Sie blinzelt gegen das helle Licht, dann geht es los.

Maliwaza huscht die Platte entlang, schnuppert an jedem Loch. Beim zweiten kratzt sie mit ihren Pfoten auf dem Metall. "Zwei", sagt die Labortechnikerin. Beim fünften kratzt sie wieder. "Fünf", sagt die Labortechnikerin. Zwei Proben identifiziert, vielleicht zwei Leben gerettet. Die Ratte Maliwaza erschnüffelt Tuberkulose.

Tuberkulose (TB) ist die am häufigsten tödliche Infektionskrankheit der Welt. 2018 starben daran 1,5 Millionen Menschen, im Schnitt alle 20 Sekunden einer. Das ist mehr als an AIDS und Malaria zusammen. Zehn Millionen erkranken laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr neu an TB.

Bevor die Ratten sich durch die Proben schnüffeln, werden sie im Labor vorbereitet

Bevor die Ratten sich durch die Proben schnüffeln, werden sie im Labor vorbereitet

Foto: Zacharias Abubeker

Und gemessen an der Bevölkerungszahl sterben daran nirgendwo so viele wie in Afrika. Tuberkulose lässt sich zwar mit Antibiotika behandeln, wird die Infektion allerdings nicht erkannt, endet sie in vielen Fällen tödlich. Gerade in Entwicklungsländern passiert das häufig. Und da kommen Maliwaza und ihre Rattenkollegen ins Spiel.

Auf die Idee, die Tiere bei der Tuberkulose-Erkennung einzusetzen, kam ein Belgier, der eigentlich nichts über Medizin wusste, dafür aber viel über Nagetiere. Seine Nichtregierungsorganisation (NGO) Apopo benutzt die Ratten schon seit den Neunzigerjahren, um in Afrika, Südostasien und Südamerika Landminen aufzuspüren. Der Geruchssinn der Tiere ist so gut, dass sie Sprengstoff im Boden riechen. Und sie sind so leicht, dass sie die Minen nicht auslösen.

2002 begann Apopo dann, Ratten auch auf die Erkennung von TB zu trainieren. Heute helfen die "Hero-Rats" in drei Ländern bei der TB-Diagnose: in Tansania, in Mosambik und seit einem Jahr auch in Äthiopien.

Negussie Beyene, 47, ist der Herr der Ratten in Addis Abeba. Der Chemiker leitet das Apopo-Labor in Äthiopien und sagt: "Ich hätte auch nie gedacht, dass Ratten einmal meine Mitarbeiter sein werden." Dabei sind die Nager nicht nur Mitarbeiter, sie sind das Aushängeschild.

Negussie Beyene hat bereits in Tanzania und Mosambik für Apopo gearbeitet. Jetzt leitet er das Labor in seiner Heimatstadt Addis Abeba

Negussie Beyene hat bereits in Tanzania und Mosambik für Apopo gearbeitet. Jetzt leitet er das Labor in seiner Heimatstadt Addis Abeba

Foto: Zacharias Abubeker

Fast jeden Tag kommen Besucher zu Beyene. Alle wollen die Ratten sehen. An diesem Morgen war es eine Gruppe Nonnen. Und es gibt T-Shirts mit Ratten-Aufdruck, Ratten-Merchandise und Ratten-Patenschaften. Apopo finanziert sich ausschließlich durch Spendengelder; für Krankenhäuser und Patienten sind die TB-Tests umsonst.

Im Labor schnüffelt sich Maliwaza durch die Sputum-Proben unter der Edelstahlplatte. Sputum ist der Schleim aus der Lunge, den die Patienten mit TB-Verdacht aushusten. In 20 Minuten checkt Maliwaza 100 Proben. Ein Labortechniker mit einem Mikroskop braucht dafür vier Tage.

"Die Ratten sind nicht nur viel schneller als herkömmliche Diagnosetechniken", sagt Beyene, "sie entdecken auch Fälle, die vorher unbemerkt geblieben sind." Die Tiere können Tuberkulose sogar in Proben riechen, in denen die Bakterienkonzentration so gering ist, dass die Erreger unter dem Mikroskop kaum zu erkennen sind.

Menschen warten in einem Krankenhaus in Addis Abeba auf einen Termin. Die ersten Symptome von Tuberkulose sind Husten, Atemnot, Fieber und Müdigkeit

Menschen warten in einem Krankenhaus in Addis Abeba auf einen Termin. Die ersten Symptome von Tuberkulose sind Husten, Atemnot, Fieber und Müdigkeit

Foto: Zacharias Abubeker

Das rettet Leben, vor allem bei Kindern und HIV-positiven Menschen. Bei Kindern, weil es ihnen schwerfällt, eine ausreichende Menge Sputum auszuhusten. Bei HIV-Kranken, weil sie aufgrund ihres geschwächten Immunsystems bereits bei einer geringen Bakterienkonzentration an TB erkranken.

Lena Fiebig, Leiterin der Tuberkuloseabteilung von Apopo, sagt: "Die Ratten erhöhen die Fallfindung bei TB um bis zu 40 Prozent." Allein in den vergangenen Jahren wurden so 15.000 Fälle aufgespürt, die den Krankenhäusern entgangen waren. 15.000 Menschen wurden rechtzeitig behandelt, weil eine Ratte Alarm geschlagen hatte.

Die Ratten können dank ihres feinen Geruchssinns Tuberkulose-Erreger riechen - und sie brauchen dafür kaum Zeit: Eine Ratte checkt 100 Proben in 20 Minuten

Die Ratten können dank ihres feinen Geruchssinns Tuberkulose-Erreger riechen - und sie brauchen dafür kaum Zeit: Eine Ratte checkt 100 Proben in 20 Minuten

Foto: Zacharias Abubeker

Die Ratten von Apopo sind nicht nur besonders, sie sind auch besonders groß. Es sind Riesenhamsterratten, so groß wie kleine Katzen. Im Gegensatz zu der gemeinen Hausratte, Rattus rattus, die nur maximal drei Jahre lang lebt, können Maliwaza und ihre Artgenossen bis zu acht Jahre alt werden.

Da macht es auch nichts, dass ihre Ausbildung so lange dauert. Neun Monate lang werden die Tiere in Apopos Hauptquartier in Tansania zu professionellen Schnüfflern ausgebildet. Danach bleiben manche von ihnen dort, die anderen verlassen das Land und gelangen per Flugzeug an ihre Arbeitsorte, nach Mosambik oder Äthiopien.

In diesen Boxen transportieren Motorradkuriere Sputum-Proben durch ganz Addis Abeba. Jeden Tag sind fünf von ihnen im Einsatz und fahren über 50 verschiedene Krankenhäuser ab

In diesen Boxen transportieren Motorradkuriere Sputum-Proben durch ganz Addis Abeba. Jeden Tag sind fünf von ihnen im Einsatz und fahren über 50 verschiedene Krankenhäuser ab

Foto: Zacharias Abubeker

In Addis Abeba arbeitet Apopo mit mehr als 50 Krankenhäusern zusammen. Motorradkuriere fahren die Hospitäler ab, sammeln Proben ein und bringen sie durch den dichten Verkehr der äthiopischen Hauptstadt ins Rattenlabor.

Eines der Krankenhäuser, das Proben von Apopo testen lässt, ist das Filipos Krankenhaus. Es liegt auf einem Hügel mit Blick über die Stadt – ein öffentliches Gesundheitszentrum, in das vor allem Menschen aus der Nachbarschaft kommen. Äthiopien erzielt Erfolge bei der TB-Bekämpfung, gehört aber immer noch zu den 30 am schwersten von der Krankheit betroffenen Ländern der Welt.

Auch ins Filipos-Krankenhaus kommen jeden Tag Menschen mit Husten und Fieber. Die meisten landen irgendwann bei Habetemaryam Nigatu, einem der TB-Spezialisten des Krankenhauses. Nigatu sitzt in einem Untersuchungszimmer und blättert durch seine Patientenakten. "Hier", sagt er, "Alem, 18 – die ist jetzt Tuberkulose-frei." Und: "Yonas, 35, der arbeitet wieder." Es sind Patienten, deren Tuberkulose von Ratten erschnüffelt wurde. "Die Ratten sind eine unglaubliche Hilfe", sagt Nigatu, "vor allem, weil wir hier Massentests machen."

Habtamariam Nigatu betreut Tuberkulose-Patienten am Filipos Krankenhaus in Addis Abeba

Habtamariam Nigatu betreut Tuberkulose-Patienten am Filipos Krankenhaus in Addis Abeba

Foto: Zacharias Abubeker

Alle Proben, bei denen die Tiere TB feststellen, werden von Apopo noch einmal gegengecheckt - dieses Mal mit einem LED Mikroskop. Es gibt viele Arten, Tuberkulose zu testen, aber nur zwei gelten international als Goldstandard: die LED Mikroskopie und GeneXpert, ein extrem akkurater Test auf DNA-Basis. Beide Methoden sind noch zuverlässiger als die Ratten, aber sie sind auch langsam und teuer.

Und: DNA-Tests und LED-Mikroskope brauchen eine stabile Stromversorgung und geschultes Personal. Eine Ratte braucht Futter und Wasser und ein Gehege. Gerade dort, wo Tuberkulose am häufigsten vorkommt, in Afrika und Südostasien, könnten die Ratten also eine effiziente und günstige Alternative zu technisch aufwendigen Diagnosemethoden sein.

DER SPIEGEL

Maliwazas Schicht ist vorbei. Sie hat sich ihren Lohn erschnüffelt, es gibt Bananenstampf und Wasser. Eine Labortechnikerin trägt sie auf ihrer Schulter zurück ins Gehege. An der Käfigtür hängt ein Schild, darauf steht ihr Name und ihr Geburtsdatum: Maliwaza, 2. April 2013.

Maliwaza hat vielleicht noch ein Jahr, bis sie zu alt für den Job wird. Dann wird sie in Rente gehen. Apopo hat ein Altersheim für die Nager bauen lassen. Es liegt in Tansania, dort wo Maliwaza und die anderen Tiere ausgebildet wurden. Wenn sie alt werden, fliegen die Ratten nach Hause.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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