Affenpocken in Europa »Es gibt immer noch zu viel Rücksicht auf die Pharmakonzerne«

Wartende Männer vor einem Impfzentrum in Manchester
Foto: Jon Super / action press
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
SPIEGEL: Frau Castro, es ist kaum zwei Jahre her, dass Covid-19 die Welt auf den Kopf stellte. Jetzt droht mit den Affenpocken neue Gefahr. Sind wir dieses Mal besser vorbereitet?
Rosa Castro: In den vergangenen zwei Jahren ist tatsächlich vieles passiert, um auf solche Gesundheitskrisen besser vorbereitet zu sein. Die EU-Kommission hat etwa mit Hera (Health Emergency Preparedness and Response Authority) im vergangenen September eine neue Behörde geschaffen, die Notsituationen erkennen und im Auftrag aller Mitgliedstaaten schneller reagieren soll. Allerdings ist davon bislang noch wenig zu sehen. Obwohl die WHO wegen der Affenpocken kürzlich den internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen hat, gibt es auch jetzt wieder Alleingänge und Misstrauen.

Rosa Castro, Jahrgang 1977, ist Expertin für Gesundheitsversorgung bei EPHA, einem Dachverband europäischer Public-Health-Organisationen. Zuvor arbeitete die gebürtige Venezolanerin unter anderem an der Duke University und für verschiedene Gesundheitsorganisationen in Brüssel.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
Castro: Zum Beispiel hat Hera bislang etwa 160.000 Dosen Impfstoff gegen die Affenpocken bestellt, allein Frankreich dagegen aber beispielsweise 250.000. Es war eine bewusste Entscheidung, dass einzelne Länder neben der EU ebenfalls Vakzinen bestellen können. Aber natürlich führt das zu einem Wettlauf, bei dem große und reichere Länder bessere Karten haben. Andere können sich das gar nicht leisten.
SPIEGEL: Was bringt eine weitere Organisation, wenn alle weitermachen wie bisher?
Castro: Die Gründung war ein Spagat. Anders als die Arzneimittelbehörde EMA oder die EU-Gesundheitsbehörde ECDC ist Hera nicht unabhängig. Bislang untersteht Hera der EU-Kommission als nachrangige Behörde. Viele europäische Regierungen hatten Angst, Macht abzugeben. Ich kann das teilweise nachvollziehen. Doch wenn wir die Kleinstaaterei nicht überwinden, stehen wir immer wieder vor den gleichen Problemen.
SPIEGEL: Wie ginge es aus Ihrer Sicht besser?
Castro: Die EU möchte ja bereits eine Gesundheitsunion werden. Dabei könnte Hera viel helfen. Zuallererst, sollte es zu einer unabhängigen Institution aufgewertet werden. Dann braucht es bessere, gemeinsame Beschaffungsregeln. Im Gegenzug ist Transparenz notwendig, damit Vertrauen in Hera entsteht und die Öffentlichkeit die Verträge auch nachvollziehen kann. Die USA haben mit BARDA schon lange eine vergleichbare Behörde, die sich eigenständig auf Notfälle vorbereitet und dann notwendige Medikamente besorgt. Weil man rechtzeitig und langfristig vorgesorgt hat, gibt es dort jetzt auch Impfstoffe und Medikamente gegen Pocken. Diese Diskussion um Strukturen ist allerdings nur ein Teil des Problems.
SPIEGEL: Woran hakt es noch?
Castro: Wir haben bis heute keinen guten Überblick, wie viel international geimpft wurde. Und auch bei den Affenpocken hängt alles davon ab, was die Pharmaindustrie liefern kann und will. Zurzeit gibt es mit Bavarian Nordic nur ein Unternehmen, das an einem einzigen Ort den zentralen Impfstoff für die halbe Welt herstellt. Aus meiner Sicht sollten die EU und einzelne Mitgliedstaaten Druck ausüben, um notfalls Zwangslizenzen zu nutzen. Dazu laufen derzeit auch Gespräche. Aber es gibt immer noch zu viel Rücksicht auf die Pharmakonzerne. Dabei haben sie für die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten öffentliche Gelder erhalten, übrigens auch Bavarian Nordic.
SPIEGEL: Was bedeutet das alles für Betroffene und Menschen, die einer Risikogruppe angehören?
Castro: Momentan gibt es aus ganz Europa Berichte von Männern, die beispielsweise von Italien oder Spanien nach Frankreich reisen, um dort die Chance auf eine Impfung zu haben. Zusätzlich kursieren in den sozialen Medien Fotos von Menschen mit erblichen Hautkrankheiten, die beim U-Bahn-Fahren fotografiert und dann fälschlicherweise als Affenpockenpatienten bezeichnet und beschimpft wurden. Das sind Geschichten, die mich erschrecken. Es gibt wenig Wissen, aber sehr viele Vorurteile.
SPIEGEL: Liegt die Stigmatisierung vielleicht auch daran, dass 97 Prozent der Fälle in Europa bislang bei Männern auftraten, die Sex mit Männern haben?
Castro: Das scheint sehr naheliegend. Aber diese Menschen sind besonders gefährdet – und nicht besonders gefährlich für andere. Natürlich ist es ein schmaler Grat, die gefährdeten Gruppen anzusprechen, ohne sie zu stigmatisieren. Wenn ich mir die vergangenen Wochen jedoch anschaue, bin ich mir nicht sicher, ob wir in Europa aus HIV gelernt haben. Wir benötigen mehr Aufklärung.

Affenpockenerreger unter dem Elektronenmikroskop
Foto: Cynthia S. Goldsmith / picture alliance/dpa/Russell Regner/CDC/APSPIEGEL: Ungleichheit beim Zugang zu Gesundheitsversorgung gibt es nicht nur in Europa, sondern insbesondere außerhalb. In afrikanischen Ländern treten die Affenpocken seit mehr als 30 Jahren regional auf. Dennoch tauchen diese Staaten in der Diskussion aktuell noch nicht einmal richtig auf.
Castro: Auch hier zeigt sich, wie Engstirnigkeit und nationale Alleingänge uns alle gefährden. Die Affenpocken hätten in Afrika vermutlich längst eingedämmt werden können, wenn die Weltgemeinschaft betroffene Regionen zuverlässig mit Impfstoffen unterstützt hätte. Wenn man sie jetzt wieder übergeht, zeigt das nur, wie kurzfristig wir leider immer noch denken. Wir müssen lernen, dass wir Gesundheitskrisen nur gemeinsam überleben. Bislang ist es unser Glück, dass die Affenpocken nicht in derselben Größenordnung auftreten wie Corona. Noch geht es um wenige Tausend Fälle. Wir sollten diese Situation als Chance sehen, um jetzt möglichst viel zu verbessern. Wenn nicht aus Solidarität, dann aus schierem Eigennutz. Das ist nach Covid unsere zweite Chance. Und ich bin nicht sicher, ob wir eine dritte bekommen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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