Afghanische Soldaten nach US-Abzug »Das ist unser Land, und wir verteidigen es«

Der afghanische Grenzsoldat Sayyed Agha ist wütend auf die Kabuler Politiker: »Sie würden ihre eigenen Söhne niemals hierherschicken«
Foto: Emran FerozDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Im Hintergrund sind Schüsse zu hören, als der Soldat Hamza Mohammadi mit seinem Gewehr neben einem Schaulustigen posiert und in die Kamera lächelt. Er ist gerade mal Anfang 20, hat dunkelblonde Haare und einen Vollbart. Zu seiner Militäruniform trägt er Sportschuhe.
Wenige Meter neben ihm zielen zwei Maschinengewehre auf geländegängigen Humvees der afghanischen Armee auf eine kaum sichtbare, hoch gelegene Taliban-Stellung in den Bergen – es ist eine von vielen im Pech-Tal in der ostafghanischen Provinz Kunar. Die Soldaten feuern in unregelmäßigen Abständen ihre Salven ab. Vom Feind hört man weder etwas, noch sieht man ihn. »Die verstecken sich da oben«, kommentiert ein Soldat hitzig.
Auf der Straße, die in die Nachbarprovinz Nooristan führt, herrscht aufgrund des unübersichtlichen Gefechts Stau. Kurz zuvor ist eine Landmine hochgegangen. Den Schaden auf der Straße müssen nun jene Zivilisten beheben, die weiterreisen wollen.

Soldat Hamza Mohammadi im Pech-Tal
Foto: Emran FerozEinige von ihnen versuchen, den kleinen Krater im Boden mit Felsen zu füllen. Währenddessen beobachten sie das Kampfgeschehen. Manche Menschen trinken Tee, machen Fotos von der Landschaft oder unterhalten sich lautstark mit Freunden und Verwandten. Die ganze Situation erscheint absurd – doch sie ist nur allzu normal geworden in einem Land, in dem nun seit über 40 Jahren Krieg herrscht und den Alltag bestimmt.
Amerikas Abzug nach 20 Jahren
Am Mittwoch verkündete US-Präsident Joe Biden den endgültigen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Es sind nur noch rund 3500 von ihnen im Land, bis zum 11. September 2021 sollen auch sie aus Afghanistan abziehen; auch die anderen Nato-Partner, darunter Deutschland, sollen spätestens bis dann das Land verlassen.
Es wäre das offizielle Ende eines fast 20 Jahre dauernden Kriegs.

Zivilisten reparieren im Pech-Tal die bei Kämpfen beschädigte Straße
Foto: Emran FerozBiden will damit auch jenes Abkommen honorieren, das schon die Regierung seines Vorgängers Donald Trump im Februar vergangenen Jahres mit den afghanischen Taliban im Golfemirat Katar abgesegnet hatte. Der Deal sah ursprünglich bis Mai 2021 einen totalen Abzug vor. Nun wurde die Frist nach hinten geschoben – auf ein symbolisches Datum: 20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001, mit denen eine ganze Ära amerikanischer Kriege begann.
In Kabul haben viele Menschen Zukunftssorgen
Die Taliban sind nun zwar empört, dass die ursprüngliche Deadline nicht eingehalten wird. In Kabul hingegen, wo unter amerikanischer Militärmacht eine Regierung aufgebaut wurde, ist die Sorge vor allem groß über das, was nun folgen wird.
Einen Friedensschluss bedeutet der Deal der Taliban mit den Amerikanern jedenfalls nicht. Die Extremisten bekriegen weiterhin die afghanische Armee und greifen regelmäßig Zivilisten an. Laut dem jüngsten UNAMA-Bericht wurden im ersten Quartal 2021 mindestens 573 Zivilisten getötet sowie 1783 weitere verletzt. Die Anzahl der getöteten Sicherheitskräfte ist meist um ein Vielfaches höher – und sie wird selten berücksichtigt.
Viele dieser Soldaten sind junge Männer wie Mohammadi. Und sie sind schon lange auf sich allein gestellt. Dies wird vor allem in Regionen wie dem Pech-Tal deutlich. »Pech« (ausgesprochen »Peetsch«) bedeutet »Schraube«. Doch das Tal ist nicht nur für seine engen und verwobenen Straßen und Flüsse bekannt. Kunar gehört zu den bekanntesten Kriegsschauplätzen Afghanistans und ist für den Guerillakrieg bestens geeignet.

Präsident Joe Biden bei der Verkündung des Afghanistan-Abzugs am Mittwoch
Foto: Andrew Harnik / Pool / Getty ImagesBereits in den Achtzigerjahren bekämpften die Mudschahedin-Rebellen hier erfolgreich die Rote Armee und schossen russische Helikopter ab. Jahre später, während des amerikanischen »War on Terror«, erlebten die US-Soldaten im Kampf gegen die Taliban in Kunar einige verheerende Niederlagen. Das Pech-Tal hat zahlreiche Elitesoldaten in die Knie gezwungen. Neben den Taliban war in Kunar auch al-Qaida präsent – sowie in den vergangenen Jahren der afghanische Ableger des »Islamischen Staats«.
Der junge Soldat Mohammadi gibt sich angesichts des amerikanischen Abzugs unbeeindruckt: »Wir kämpfen schon lange allein, und mit Gottes Hilfe werden wir siegen«, sagt er. Er ist seit einigen Monaten im Pech-Tal stationiert und stammt ursprünglich aus der angrenzenden Provinz Nangarhar. Seine Familie kann er nur in unregelmäßigen Abständen besuchen.
Dass die Amerikaner Kunar und andere Standorte verlassen haben, wundert Mohammadi nicht. »Das hier ist unser Kampf. Wir müssen das selbst regeln«, sagt er. Abdul Hadi, ein weiterer Soldat und Kampfgefährte Mohammadis, ist skeptischer. »Schau dich hier mal um. Das ist unser Alltag. Wie lange soll das noch so weitergehen?«, fragt er sich.
Abdul Hadi stammt aus Kabul. Kunar und andere afghanische Provinzen kannte er zuvor nicht – er lernte sie zum ersten Mal als Soldat kennen. »Das Leben hier ist anders als in Kabul. Viele wissen gar nicht, was hier los ist, geschweige denn die verantwortlichen Politiker«, sagt Abdul Hadi. Gerade erst mussten Mohammadi und er hier gefallene Kameraden begraben.
Von all den afghanischen Soldaten, die täglich in Afghanistan getötet werden, hört man selten etwas. Im September 2019 kündigte Ex-Präsident Donald Trump kurzzeitig die Friedensverhandlungen mit den Taliban auf, nachdem ein US-Soldat bei einem Gefecht umkam. »Die Gespräche sind tot«, erklärte Trump damals kurz vor dem Jahrestag der Anschläge des 11. Septembers. Einige Wochen später nahm Washington die Gespräche abermals auf.
Die Amerikaner packen schon ihre Sachen
Im selben Zeitraum töteten die Aufständischen Hunderte von afghanischen Soldaten – meist einfache Männer aus armen Familien wie Mohammadi und Abdul Hadi. Daran hat sich auch seit der Unterzeichnung des Doha-Deals nichts verändert. Während die US-Soldaten sich in ihre Stützpunkte zurückgezogen haben und bereits ihre Sachen packen, wird der Krieg auf den Schultern der afghanischen Armee weiterhin ausgetragen.
»Die Amerikaner sind schon lange weg. Wir können allerdings nicht abziehen. Das ist unser Land, und wir verteidigen es«, sagt Sayyed Agha. Er ist gegenwärtig im Distrikt Sarkano an der pakistanischen Grenze stationiert. Sein monatlicher Sold: rund 140 Euro.
Die Milliarden aus den USA sind in der Korruption versickert
Der Grenzposten ist klein und liegt abgeschieden. Strom gibt es nicht. Wasser müssen die Soldaten auf dem hoch gelegenen Hügel mit Kanistern anschaffen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten flossen Milliarden von Dollar an internationaler Hilfe in die afghanische Armee. Doch den Soldaten in Kunar fehlt es an den grundlegendsten Dingen. Ein Grund ist die massive Korruption.

Im verschlungenen Pech-Tal haben US-Soldaten einige Niederlagen gegen die Taliban erlitten
Foto: Emran FerozHochrangige Militärs haben sich konsequent persönlich bereichert, während jene, die an der Front kämpfen, praktisch nichts haben. Sayyed Agha macht hierfür auch die afghanische Regierung in Kabul verantwortlich. »Wir kämpfen für Politiker mit ausländischen Staatsbürgerschaften. Ihre eigenen Familien leben im Ausland. Sie würden ihre eigenen Söhne niemals hierher schicken«, beschwert sich Agha.
Die Regierung von Präsident Ashraf Ghani steht schon seit Längerem in der Kritik, den Draht zur Realität verloren zu haben. Viele von Ghanis engsten Beratern sind Auslandsafghanen, die teils keine der Landessprachen beherrschen und mit Korruptionsskandalen für Aufsehen sorgen. »Diese Menschen leben in ihrer eigenen Welt, und die hat mit unserer nichts gemein. Wir kämpfen nicht für sie, sondern für unser Land«, resümiert Agha. Er packt seinen Wasserkanister und steigt den Hügel hinauf.