Sima Samar

Kabul Diary »Aus hungernden Kindern können keine gesunden Erwachsenen werden«

Sima Samar
Eine Kolumne von Sima Samar
2021 war ein Schreckensjahr für Afghanistan – im nächsten werden wir zu viele Krisen gleichzeitig lösen müssen: Kindern droht der Hungertod, Menschen sind auf der Flucht. Was hilft, und vor allem: wer?
Kinder auf dem Gang der Abteilung Unterernährung im Krankenhaus von Farah, Afghanistan, Oktober 2021

Kinder auf dem Gang der Abteilung Unterernährung im Krankenhaus von Farah, Afghanistan, Oktober 2021

Foto: Majid Saeedi / Getty Images
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Viele Leute sagen, mein Land Afghanistan sei immer schon in einer humanitären Krise gewesen. Das stimmt schon, zum Teil. Im Jahr 2021 aber ist die Lage ernster als jemals zuvor.

Ich blicke zurück auf das, was in den vergangenen Monaten passiert ist. Denn es sagt viel darüber aus, was nächstes Jahr auf meine Heimat zukommt.

Zur Autorin
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Kayana Szymczak / DER SPIEGEL

Sima Samar, Jahrgang 1957, studierte in Kabul Medizin. Sie wurde Ende 2001 Afghanistans erste Frauenministerin und eine von fünf Stellvertretern des damaligen Präsidenten Hamid Karzai. Dieser ernannte sie 2002 zur Leiterin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, der sie bis heute vorsteht. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ist zum zweiten Mal verheiratet; ihr erster Ehemann wurde 1979 verschleppt und tauchte nie wieder auf. Kurz vor der Rückkehr der Taliban in Kabul reiste Samar in die USA, wo sie immer noch ist. Zurück in ihre Heimat kann sie derzeit nicht.

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Erstens: Wir befinden uns nach der Machtübernahme durch die Taliban in einer politischen Krise. Es ist vergleichsweise leicht, das Land zu erobern, nicht aber, es zu regieren und das Vertrauen der Bevölkerung aufzubauen. Die Menschen leben in Angst vor den Taliban und in Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Zweitens: Es gibt eine Wirtschaftskrise und einen dramatischen Anstieg der Armut . Die Bankautomaten geben kein Geld mehr aus. Regierungsbeamte werden nicht bezahlt. In Regionen, in denen gekämpft wurde, konnten Bauern ihre Ernten nicht einholen.

Die Dürre im Land und viel zu viele Ernteausfälle führen dazu, dass Lebensmittel knapp werden und zu teuer für viele. Mehrere Millionen Menschen sind innerhalb Afghanistans auf der Flucht, sie haben ihr Zuhause verlassen auf der Suche nach einem Ort, an dem es ihnen besser geht. Wo soll dieser Ort sein?

Menschen in Kandahar im Dezember 2021: »Was wird aus Afghanistan?«

Menschen in Kandahar im Dezember 2021: »Was wird aus Afghanistan?«

Foto: Murteza Khaliqi / Anadolu / Getty Images

Das führt mich direkt zur Gesundheitskrise: Wie soll man sich vor Covid-19 schützen in einem Land, in dem die wenigen Krankenhäuser, die noch offen sind, keine grundlegende medizinische Ausstattung haben? Ich weiß, dass die ganze Welt unter der Pandemie leidet. Aber Afghaninnen und Afghanen, sie sind auf so vielen Ebenen damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, dass sie an das Virus kaum einen Gedanken verschwenden können. Sie wissen nur dies: Sind sie in Not, dürfen sie nicht auf Hilfe hoffen.

Viertens: Die Gewalt gegen Frauen hat zugenommen, Kinder werden zwangsverheiratet. Eltern verkaufen ihre Töchter, um den Rest der Familie zu ernähren. Das zeigt auch ein aktueller Bericht  von Unicef. Die Not macht so etwas. Hilfszentren, das Frauenministerium, die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans und alle anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Opfer von Gewalt unterstützen, sind geschlossen worden. Wer hilft jetzt noch einer vergewaltigten Frau?

Was mich als Ärztin, Mutter, Politikerin, Afghanin besonders schmerzt: Kinder sind in der aktuellen Situation am meisten gefährdet. Millionen Mädchen und Jungen im Land hungern, sind mangelernährt. Der Winter in Afghanistan fängt gerade erst an. Eine Million Kinder könnte in diesem Winter verhungern , schätzt das Welternährungsprogramm. Aus unterernährten Kindern können keine gesunden Erwachsenen werden. Kinder sollten nicht zu Leidtragenden und Bestraften politisch falscher Entscheidungen werden.

Das erinnert mich an die späten Neunzigerjahre. Damals blockierten die Taliban Hazarajat, eine Region in Zentralafghanistan. Ich kam als Ärztin dorthin, um zu helfen; alle Kinder hatten aufgedunsene Gesichter und aufgerissene, blutende Haut. Sie waren mangelernährt. Hatten seit Monaten nur Kartoffeln gegessen, nichts anderes.

Überall im Land leiden Mädchen und Jungen Hunger: Hier Kleinkinder, die deswegen im Indira Gandhi Children Hospital in Kabul behandelt werden (Oktober 2021)

Überall im Land leiden Mädchen und Jungen Hunger: Hier Kleinkinder, die deswegen im Indira Gandhi Children Hospital in Kabul behandelt werden (Oktober 2021)

Foto: Bilal Guler / Anadolu / Getty Images

Was wird aus Afghanistan? Was bringt das nächste Jahr? Die Welt hat eine moralische Verantwortung, weitere humanitäre und von Menschen gemachte Katastrophen in meinem Land zu verhindern. Es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, dass das Leid der Bevölkerung seit so vielen Jahren anhält. Dass es wächst. Dass es keine Aussicht auf Besserung gibt. Vor allem, dass die Menschen den Glauben daran verlieren, dass ein besseres Leben auf sie warten könnte.

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Ich bin mir sicher, es gäbe eine Lösung. Wir Menschen sind doch imstande zu großen Dingen. Wie entschieden die Welt handeln kann, wenn sie will, zeigt nicht zuletzt die Pandemie: Der Wissenschaft ist es gelungen, Impfstoffe gegen das Coronavirus herzustellen und Milliarden Menschen so besser vor Krankheit und Tod zu schützen.

Wo bleibt das entschiedene Handeln in Afghanistan? Die Menschenrechte im Land müssen endlich geachtet werden. Die internationale Gemeinschaft muss sicherstellen, dass regelmäßig Hilfslieferungen und Hilfsgelder im Land ankommen. Dass diese Mittel in die richtigen Hände gelangen, in die von Ärztinnen, Ärzten, Helfenden. Dass jene Regionen zuerst erreicht werden, die am meisten in Not sind. Das wäre ein erster Schritt.

Redaktion und Übersetzung: Maria Stöhr

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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