Seit knapp zwei Monaten ist die Hauptstadt Kabul fest in der Hand der Taliban. Die Reporter Christoph Reuter und Thore Schröder berichten seit Anbeginn der neuen Herrschaft aus der Metropole. Knapp sechs Wochen nach der Machtübernahme wollen sie in die Provinzen, ins Herz des Landes, um zu recherchieren, welche Folgen der Umsturz für die Landbevölkerung hat.
Doch schnell wird klar, wie beschwerlich es ist, aus abgelegenen Regionen dieses Landes zu berichten.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL
»Wir hatten in Kabul versucht in Erfahrung zu bringen, wie lange brauchen wir für die Strecke? Wie ist die Straße? Was kaum jemand wusste, um dann festzustellen: Wir brauchen nicht ein, anderthalb Tage, sondern wir brauchen zweieinhalb Tage für eine einzige Strecke. Und das, was als Straße ausgezeichnet ist, sah aus und fuhr sich eher wie ausgetrocknete Flussbetten. Zum Teil waren es ausgetrocknete Flussbetten und zum Teil waren es auch nicht ausgetrocknete Flussbetten, wo wir durchs Wasser der Bäche und Flüsse fahren mussten.«
Die Recherchereise in die westlichen Provinzen führt von Kabul über die Provinz Bamiyan und entlang den Ausläufen des Hindukusch-Gebirges in die Provinz Daikundi in Zentralafghanistan. Hier fürchtet die Minderheit der überwiegend schiitischen Hazara ethnische und religiöse Verfolgung seit der Machtübernahme der Taliban.
Doch bis die Reporter es hier herschaffen, dauert es. Begegnungen am Wegesrand:
»Alleman, alleman. …Inshallah!«
Ob es noch einen Platz im Minibus für einen von ihnen gäbe, fragen sie die Journalisten. Eine Möglichkeit für eine Mitfahrgelegenheit ergibt sich hier eher selten.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL
»In diesem Land, wenn man sich aus Kabul und den wenigen Großstädten herausbewegt, dann ist der Weg schon die Geschichte selbst. Wir kamen mit unseren afghanischen Begleitern durch Gegenden, durch die sie noch nie gefahren waren, wo sich pechschwarze Schiefer und Granit Blöcke abwechselten, mit zinnoberroten Bergmassiven, die aussehen, als führe man durch den Grand Canyon.«
Doch immer wieder kommt es zu Pannen auf dem Weg.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL
»Wir haben eine kaputte Benzinpumpe, eine streikende Benzinleitung ausgewechselt, das Auto getauscht, nachdem der Auspuff vollkommen seinen Geist aufgab. Bei dem nächsten Fahrzeug, was schon extra ein höher gelegter sogenannter Flying Coach war, ein Kleinbus für harte Strecken hatten wir nach wenigen Stunden mitten in der Nacht einen Federbruch der Hinterachse und mussten dann warten. Während uns um vier Uhr morgens auf einem Esel drei kleine Jungs entgegengeritten kam, zwei vermummt und erforderte, trug eine Monstermaske, wie man sie aus dem Spielzeugladen kennt, aber nicht erwarten würde bei kleinen Kindern morgens um vier in den Bergen von Ost-Daikundi. Es war alles in allem eine surreale, absurde Reise durch unfassbar schöne Landschaften.«
– die allerdings nicht ganz einfach zu durchqueren sind:
Christoph Reuter, DER SPIEGEL
»Einmal sagte einer der Fahrer, es gebe da eine neue Strecke, die sei vor ein paar Jahren erst gebaut worden. Die sei gut. Die könnten wir nehmen. Die sind wir dann gefahren. Und es war eine grausame Ruckelpiste. Und vor allen Dingen führte sie, weil sie so schmal und führte die ganze Zeit am Abhang entlang, bis wir es vermieden, nach rechts zu schauen, wo sich die Berge öffneten, wo ein grandioses Panorama sich eröffnete. Nur eine falsche Lenkbewegung des Fahrers und wir wären in dieses grandiose Panorama hineingestürzt. Wobei das, was uns allen – inklusive der Afghanen – am meisten Angst gemacht hat, waren die uralten Holzbrücken. Es waren Brücken mit Stahlseilen und einigen Stahlelementen. Aber die Auflage waren einfach mühsam knapp entrindete Pappelstämme, die man aneinandergelegt und verteut hatte. Und dieses knirschende Geräusch, wenn man mit einem zwei Tonnen schweren Minibus mit insgesamt acht, neun Leuten ganz langsam über diese Brücke fährt, ist markerschütternd.«
Fahrer
»Hoffentlich hält die Brücke, hoffentlich hält sie…«
Nach zweieinhalb Tagen Autofahrt ist das Ziel schließlich erreicht.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL
»Wir stehen hier ziemlich am Ende der Welt am Helmand Fluss zwischen Uruzgan und Daikundi - und hinter uns sieht es aus wie das Paradies. Es ist das Paradies. Es ist so paradiesisch hier, dass Hunderte von Bauern aus der schiitischen Gemeinde der Hazara in der Umgebung hier vertrieben werden sollen. Bewaffnete Taliban sind aufgetaucht in ihren Dörfern, gemeinsam mit korrupten Großgrundbesitzern. Man habe ihnen gesagt: Ihr habt 15 Tage Zeit, euer Land, eure Häuser, alles zu verlassen. Ihr müsst hier weggehen. Eine Begründung wird meistens nicht gegeben. Hintergrund ist, dass viele von denen, die sich bereichern wollen, entweder bei den Taliban sind oder die Taliban benutzen. Meistens Paschtunen, aber sogar Großgrundbesitzer aus der eigenen Ethnie der Hazara, die jetzt die Gelegenheit nutzen, nach der Machtergreifung der Taliban sich das bestellte Land, sich die Gärten, die Felder, die mühsam über Jahre bewässert worden sind, unter den Nagel zu reißen.«
Die Flaggen der neuen Machthaber sind auch in den abgelegenen Dörfern präsent. Im benachbarten Tagabdar-Tal und den Dörfern der Umgebung hat die brutale Landnahme bereits begonnen. Hier in Daikundi zeichnet sich ein Konflikt ab, der im ganzen Land zu Vertreibungen und bewaffneten Auseinandersetzungen führen könnte, wenn die größte Ethnie, die Paschtunen, sich durch den Sieg der Taliban ermächtigt fühlt, den Minderheiten Land und Rechte zu nehmen.
Umso wichtiger sind Berichte von vor Ort, damit die neuen Machthaber des Landes wissen: Die Welt schaut auch hier zu.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL
»Wir sind vor Taliban in Deckung gegangen. Wir sind von Taliban eingeladen worden zu Brot, Suppe und grünen Tee. Und alles in allem – ja, ist der Weg oder hier unterwegs zu sein in diesem Land so kompliziert, aber auch so unfassbar spannend, weil man auf Leute trifft, die man nie in Kabul gesehen hätte. Weil man Geschichten am Wegrand erlebt, die man in der Stadt nicht erleben würde.«
In Großstädten wie Kabul geben sich die Taliban nach wie vor als konzilianter Partner, der für Sicherheit sorgt. Ihr wahres Gesicht zeigen sie eher dort, wo kaum jemand hinkommt.