Evakuierte Afghanen Von Kabul ins Hotel nach Afrika – auf Amerikas Kosten

Gelandet in Entebbe: Die ersten Evakuierten aus Afghanistan sind in Uganda angekommen
Foto: Martin Kharumwa / DER SPIEGEL
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Als die Taliban einrückten, hat sie Feuer gemacht. Kurz darauf brannten Dutzende Akten, es waren die Registerkarten ihrer Schülerinnen. Unter keinen Umständen sollten sie den Islamisten in die Hände fallen, die Mädchen zur Zielscheibe werden. Shabana Basij-Rasikh, die Frau, die das Feuer entfachte, leitet das einzige Internat für Mädchen in Afghanistan. Das Internat gibt es nun nicht mehr, jedenfalls nicht in dieser Form.
Seit Donnerstag weilen die Schülerinnen und ihre Lehrerinnen sowie das gesamte Personal der Schule in einem Land, von dem einige von ihnen vorher wohl noch nie etwas gehört hatten. Die 250 Afghaninnen und Afghanen sind nun in Ruanda.

Die Gründerin des Mädcheninternats Sola (School of Leadership Afghanistan), Shabana Basij-Rasikh, 2013 in Washington
Foto: Kris Connor / Getty ImagesImmerhin, sie versucht in all dem Schrecken so etwas wie Optimismus zu verbreiten. Man sehe die Zeit in Ruanda als »Auslandssemester«, schreibt Gründerin Shabana Basij-Rasikh auf Twitter. »Sobald es die Umstände erlauben, hoffen wir nach Hause zurückkehren zu können.« Ob die Umstände es je wieder erlauben, niemand kann das derzeit sagen. Warum die Wahl der Schulleiterin ausgerechnet auf das ostafrikanische Ruanda fiel, verrät sie nicht. Sie bittet auf Twitter um Privatsphäre, auf diese Bitte beruft sich auch die ruandische Regierung.
Aus dem ruandischen Bildungsministerium wurde nur kurz mitgeteilt, man heiße die Schülerinnen herzlich willkommen. Regierungstreue Zeitungen berichten, das Internatsteam sei auf eigene Initiative nach Ruanda gereist. Vielleicht war es auch seine einzige Möglichkeit.
On August 20th, I shared that our SOLA community is safe. Today, I want to share a few details as to the form that safety is taking.
— Shabana Basij-Rasikh (@sbasijrasikh) August 24, 2021
Last week, we completed the departure from Kabul of nearly 250 students, faculty, staff, and family members. 1/7
Fest steht: Ruanda hat sich bereit erklärt, auf dringliche Bitte der US-Regierung evakuierte Afghaninnen und Afghanen temporär aufzunehmen. »Weitere Details können wir leider nicht mitteilen«, schreibt das Kommunikationsbüro der ruandischen Regierung. Die Konstellation klingt zunächst abenteuerlich: Ein reiches Land wie die USA bittet eines der ärmsten Länder der Welt, in ihrem Namen Menschen aufzunehmen. Und nicht nur Ruanda. Die US-Regierung hat zahlreiche Drittstaaten angefragt, darunter Kolumbien, Albanien, Mexiko und Uganda. Dort sollen unter anderem Sicherheitsüberprüfungen stattfinden, bevor die Betroffenen weiterreisen dürfen.
In der ehemaligen ugandischen Hauptstadt Entebbe landete am Mittwoch um 7.56 Uhr eine Maschine der afghanischen Airline Kam Air, an Bord 51 Menschen, gestartet am Vortag aus Kabul. Eigentlich hätten es viel mehr seien sollen, auf Twitter kursieren Bilder des weitgehend leeren Fliegers. Doch das US-Militär habe die anderen Personen auf der Passagierliste nicht durchgelassen, berichtet das »Wall Street Journal« . Organisiert wurde der Flug von der privaten Entwicklungsorganisation Sayara International, die unter anderem in Afghanistan tätig ist. Die US-Botschaft in Kampala hat im Hintergrund die Fäden gezogen, die Aufnahmebereitschaft der Ugander sichergestellt.

Mit Bussen wurden die evakuierten Afghanen in ein Fünfsternehotel gebracht
Foto: Martin Kharumwa / DER SPIEGELAn Bord waren unter anderem Journalistinnen und Mitarbeiterinnen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Der Zielort Uganda war nach Recherchen des SPIEGEL wohl eher eine Notlösung, das Land hat im Gegensatz zu den USA schnell Ausreisepapiere für die Geretteten ausgestellt, damit sie Afghanistan verlassen konnten. Der Vorsitzende von Sayara International drückt es etwas diplomatischer aus: »Wir haben Uganda ausgesucht, weil sie eines der ersten Länder waren, die uns großzügig eingelassen haben.« Von den großen US-Institutionen fühlt er sich im Stich gelassen.
Die Evakuierten wurden nach Ankunft in Uganda wie ein Staatsgeheimnis gehütet, ein Journalist im Auftrag des SPIEGEL wurde gar festgenommen, nachdem er versucht hatte, mit den Geflüchteten zu sprechen. Das Luxushotel, in dem die Afghaninnen und Afghanen in Uganda untergebracht sind, wird inzwischen von schwer bewaffneten ugandischen Militärs abgesperrt.
Nur eines hat die ugandische Regierung bereits klargemacht: Die Kosten für das teure Hotel werden aus den USA getragen. Das Land wiederum sieht die temporäre Unterbringung der Geflüchteten als Chance, dem pandemiegeplagten Tourismussektor auf die Beine zu helfen. Bis zu 2000 Afghaninnen und Afghanen will Uganda auf Bitten Washingtons aufnehmen.
Die Migrationsexpertin Stefanie Barratt vom Forschungs-Thinktank Samuel Hall vermutet hinter dem Umleiten der Evakuierten in Drittländer eine gezielte Taktik: »Es wäre natürlich möglich, die Personen direkt in die USA zu bringen. Stattdessen werden wieder einmal die Grenzen externalisiert«, sagt sie. Barratt rechnet damit, dass es mehrere Monate bis Jahre dauern könnte, bis die Verfahren in den Drittländern abgeschlossen sind und klar ist, wie es mit den Betroffenen weitergeht.
Was, wenn zum Beispiel ihr Visums- oder Asylantrag in den USA abgelehnt wird? Bleiben sie dann in Uganda, Kolumbien, Albanien oder Ruanda, finanziert aus Amerika? Darauf gibt es bislang keine Antworten. »Die Priorität sollte darin bestehen, ihnen zu helfen, ihr endgültiges Ziel in den USA oder Kanada ohne Verzögerung zu erreichen«, fordert Barratt. Für die Drittländer, die sich bereit erklärt haben, Geflüchtete aufzunehmen, gehe es vor allem um zwei Dinge: politisches Kapital und bares Geld. Das Kalkül laut einigen Experten: Wenn sie die USA jetzt unterstützen, schaut die Regierung in Washington dafür zum Beispiel bei Menschenrechtsverletzungen nicht mehr so genau hin. Eine Idee, die schon in der Vergangenheit gut funktioniert hat.

Flucht aus Afghanistan am 24. August 2021
Foto: MSgt. Donald R. Allen / APAuch vier lateinamerikanische Staaten stehen auf der Liste der Länder, die für die USA Geflüchtete aus Afghanistan temporär aufnehmen sollen. Neben Chile und Costa Rica sollen die Menschen auch in Mexiko und Kolumbien untergebracht werden, zwei Ländern, die bereits mit schweren Migrationskrisen zu kämpfen haben.
Gerade für die Regierung des Kolumbianers Iván Duque bedeutet der Deal eine Annäherung an die Biden-Administration. Der kolumbianische Präsident hatte im US-Wahlkampf auf Donald Trump gesetzt und sich damit selbst ins Abseits katapultiert. Die Afghaninnen und Afghanen sollen nach ihrer Ankunft eine Covid-Impfung erhalten und in Hotels in der Hauptstadt Bogotá sowie in Barranquilla und Cali untergebracht werden – einer Stadt, in der zuletzt die Proteste gegen die Regierung eskalierten und mit äußerster Brutalität von Sicherheitskräften und paramilitärischen Gruppen niedergeschlagen wurden. Überhaupt ist Kolumbien von Gewalt und Instabilität geprägt. Im Klartext: Die 4000 Afghanen werden von einem Krisengebiet in das nächste verschoben.
»Kolumbien möchte sich als weltoffener, humanitärer Staat präsentieren«, sagt der Politikwissenschaftler Ariel Ávila vom Thinktank Fundación Paz y Reconciliación, »der Staat hat aber überhaupt keine Erfahrung mit Migrationsmanagement.« Rund zwei Millionen venezolanische Flüchtlinge befinden sich in dem Land. Auch für sie bezahlen die USA Hunderte Millionen. Die meisten hausen in Zelten, leben auf der Straße, sind mangelernährt, und ihre Kinder gehen nicht zur Schule.

Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard (r.) bei der Ankunft afghanischer Geflüchteter in Mexiko-Stadt
Foto: MEXICO'S FOREIGN RELATIONS MINIS / REUTERSBesonders eindrucksvoll verläuft derzeit die PR-Offensive rund um die Aufnahme von afghanischen Geflüchteten in Mexiko. Wie Staatsgäste wurden am vergangenen Dienstag die ersten vier jungen Frauen, ein Team von Roboter-Ingenieurinnen aus Kabul, in Mexiko-Stadt empfangen. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug klickten die Fotoapparate. Außenminister Marcelo Ebrard persönlich war gekommen, um die Afghaninnen zu begrüßen.
»Ihr steht jetzt unter dem Schutz der mexikanischen Regierung«, sagte er, als er ihnen die Pässe überreichte, inklusive einer Erlaubnis, zunächst für 180 Tage im Land zu bleiben. Im Anschluss ging es weiter zu einer Pressekonferenz, bei der sich eine der Frauen mit zitternder Stimme und den Tränen nahe für das Asyl in dem Land bedankte: »Wir sind sehr glücklich, hier zu sein. Es ist eine Ehre, dass die mexikanische Regierung uns hierhergeholt hat und unsere Leben gerettet hat.«
Kurz darauf kam bereits die nächste Gruppe von mehr als 120 Personen aus Doha an: Es handelte sich unter anderem um afghanische Journalistinnen und Journalisten, die für das »Wall Street Journal« und die »New York Times« (NYT) gearbeitet hatten, sowie deren Familien.
Zu hohe bürokratische Hürden in Washington
Auch hier war die Wahl des Zielorts wohl nicht ganz freiwillig: Wie die »NYT« berichtet , sei eine Ausreise in die USA wegen vieler bürokratischer Hürden schwierig gewesen. Daher habe man schließlich den mexikanischen Außenminister Ebrard um Hilfe gebeten, um die Mitarbeiter zu evakuieren.
Unbürokratisch seien Dokumente ausgestellt und somit eine schnelle Flucht von Kabul über Doha nach Mexiko-Stadt ermöglicht worden. »Wir sind jetzt einer Außenpolitik verpflichtet, die Meinungsfreiheit sowie liberale und feministische Werte unterstützt«, sagte Ebrard der »NYT«. Er will jetzt noch weitere afghanische Journalistinnen retten.

Kinder an der US-mexikanischen Grenze
Foto: Gregory Bull / APDass sein eigenes Land für Journalisten eines der gefährlichsten der Welt ist, ließ er unerwähnt. Auch weckt das Vorhaben, temporär Afghanen aufzunehmen, die eigentlich weiter in die USA ausreisen sollen, unangenehme Assoziationen. Im Rahmen des unter Trump gestarteten »Remain in Mexiko«-Programms wurden Asylbewerber vor allem aus Kuba und Zentralamerika aus den USA zurück in die gefährlichen mexikanischen Grenzstädte geschickt, wo sie auf ihre Verfahren und Bescheide warten mussten und teilweise noch immer festhängen. Rund 70.000 Menschen sind betroffen. Laut Human Rights Watch wurden viele der Schutzsuchenden in Mexiko Opfer von Gewalttaten wie Folter, Vergewaltigungen und Kindesmissbrauch.
Auch in Albanien sind die ersten 121 Evakuierten angekommen, nach ihrer Landung am Freitagmorgen wurden sie in einem Hotelkomplex in Durres untergebracht. Bis zu 3000 afghanische Ortskräfte könne das Land zeitweilig aufnehmen, teilte der albanische Premierminister Edi Rama mit.
Genau wie die Nachbarn Nordmazedonien und Kosovo soll das Angebot als humanitäre Geste und Unterstützung für die Nato verstanden werden. Was dabei gern in den Hintergrund rückt: Washington kommt für alle anfallenden Kosten auf.

Aufgereiht für eine ungewisse Zukunft: Afghaninnen und Afghanen am Flughafen Kabul
Foto: Donald R. Allen / US Air Force / AFPIn Spanien ist man schon weiter. Bis Mittwoch kamen 1242 Afghanen an. In den kommenden Tagen könnten aus den US-Stützpunkten in Katar und Ramstein noch Tausende weitere Personen eintreffen. Die iberische Halbinsel hat sich damit zu einer Drehscheibe für die Rettung von afghanischen Ortskräften und ihren Familien entwickelt.
Auch Personen, die für die EU tätig waren, sollen von hier aus auf andere europäische Länder verteilt werden. Die Spanier selbst rechnen mit etwa 600 Afghanen, die für sie als Übersetzer, Köche oder sonstige Mitarbeiter tätig waren und deshalb schutzberechtigt sind. Ein großer Teil der Neuankömmlinge dürfte hier jedoch tatsächlich nur kurz im Land bleiben. Denn Spanien hat sicherheitshalber ein Abkommen mit den USA geschlossen, demzufolge die USA ihre Ortskräfte spätestens nach 15 Tagen ins eigene Land holen. In der Zwischenzeit sollen Coronatests durchgeführt und Visa-Anträge bearbeitet werden.
Die erwartete Ankunft der Geflüchteten aus Kabul hat in der andalusischen Kleinstadt Rota bei Cadiz eine Welle der Hilfsbereitschaft losgetreten. Die Gemeinde sammelt Kleiderspenden und Hygieneartikel. »Wir sind bereit, Hilfe zu leisten, auch wenn die Menschen nicht direkt in unsere Stadt kommen«, erklärte Bürgermeister Javier Ruiz. Bislang, allein, fehlen die angekündigten Ortskräfte noch.
Die breite Hilfsbereitschaft steht im Kontrast zu Spaniens Umgang mit Migranten, die übers Mittelmeer kommen. Selbst die rechtsextreme Partei Vox erklärte zuletzt, Ortskräfte der Spanier schützen zu wollen. Die Hilfsbereitschaft, so scheint es, fällt umso leichter, je weniger Menschen tatsächlich im Land sind – und bleiben.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.