Sima Samar

Kabul Diary Was die Abschaffung des Frauenministeriums für Afghanistan bedeutet

Sima Samar
Eine Kolumne von Sima Samar
Die Taliban haben das Frauenministerium abgeschafft. Vor 20 Jahren habe ich dieses Ministerium aufgebaut und war die erste Frauenministerin Afghanistans. Deshalb weiß ich: Das Ende dieser Instanz wiegt schwer.
Frauen protestieren Mitte September vor dem Gebäude, in dem sich bis vor Kurzen das Frauenministerium befand

Frauen protestieren Mitte September vor dem Gebäude, in dem sich bis vor Kurzen das Frauenministerium befand

Foto: Haroon Sabawoon / Anadolu / Getty Images
Globale Gesellschaft

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Als ich am Morgen des 17. September 2021 in den USA die Nachrichten einschaltete, um zu sehen, was es in Afghanistan Neues gab, sah ich eine weitere schockierende Nachricht: Das »Ministerium für Frauenangelegenheiten« war in das »Ministerium der Laster und Tugend« umbenannt worden. Das Ansinnen dieses neuen Ministeriums unter den Taliban ist es, die Einhaltung der Scharia zu überwachen. Also: Die Freiheit einzuschränken sowie die Menschenrechte – insbesondere die der Frauen – zu verletzen.

Schon während ihrer Regierungszeit von 1996 bis 2001 haben die Taliban Menschen- und Frauenrechte verletzt, sie waren bekannt dafür. Bis heute haben die meisten Afghaninnen und Afghanen, die älter als 30 Jahre sind, diese Zeit der Geschichte ihres Landes nicht vergessen. Wie auch? Die Gewalt von damals strahlt bis in die Gegenwart.

»Ich habe dieses Ministerium aufgebaut; ich habe damals dafür gesorgt, den unterdrückten afghanischen Frauen nach 23 Jahren der Gewalt endlich Hoffnung zu geben.«

Als die Taliban nun ihre neue Regierung ankündigten, stand das Ministerium für Frauenangelegenheiten nicht auf der Liste ihrer Kabinettsministerien. Für mich war diese Situation nicht leicht zu ertragen. Denn meine eigene Biografie hängt eng mit diesem Ministerium zusammen.

Ich bin 2001 zur ersten Frauenministerin Afghanistans ernannt worden. Ich habe dieses Ministerium aufgebaut, ich habe es gepflegt; ich habe damals dafür gesorgt, den unterdrückten afghanischen Frauen nach 23 Jahren der Gewalt endlich Hoffnung zu geben. Ich hatte in der Anfangszeit viele schlaflose Nächte – es war eine anstrengende Zeit. Aber eine, in der ich mir zu jeder Sekunde sicher war, das Richtige zu tun.

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Kayana Szymczak / DER SPIEGEL

Sima Samar, Jahrgang 1957, studierte in Kabul Medizin. Sie wurde Ende 2001 Afghanistans erste Frauenministerin und eine von fünf Stellvertretern des damaligen Präsidenten Hamid Karzai. Dieser ernannte sie 2002 zur Leiterin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, der sie bis heute vorsteht. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ist zum zweiten Mal verheiratet; ihr erster Ehemann wurde 1979 verschleppt und tauchte nie wieder auf. Kurz vor der Rückkehr der Taliban in Kabul reiste Samar in die USA, wo sie immer noch ist. Zurück in ihre Heimat kann sie derzeit nicht.

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Ich kehrte für das Ministerinnennamt nach fast 20 Jahren aus dem pakistanischen Exil nach Kabul zurück. Am 21. Dezember 2001 erfolgte die Machtübergabe an eine neue Regierung, die übrigens in Deutschland ausgehandelt worden war.

Ich befand mich zu der Zeit in Kanada, als ich am frühen Morgen des 5. Dezember 2001 die Nachricht erhielt, dass ich zu einer der fünf Vizepräsidentinnen und zur Ministerin für Frauenangelegenheiten in der neuen afghanischen Regierung ernannt worden war. Niemand hatte mich vor dieser Ankündigung konsultiert. Es war bei den Friedensgesprächen in Bonn und St. Petersburg einfach entschieden worden.

Da war ich also, die erste Frauenministerin. Mit einem Ministerium ohne Struktur, ohne Gebäude, ohne Personal und ohne Haushalt. Ich hatte zwei Monate Zeit, um ein Gebäude zu finden und die Arbeit des Ministeriums aufzunehmen.

Eingang des früheren Frauenministeriums: Auf dem Schild bereits von den Taliban umbenannt in »Ministerium der Tugenden und Laster«

Eingang des früheren Frauenministeriums: Auf dem Schild bereits von den Taliban umbenannt in »Ministerium der Tugenden und Laster«


Foto:

STRINGER / EPA-EFE

Schließlich fand ich ein baufälliges, schmutziges Gebäude. Ich musste Mittel auftreiben, um diese Einrichtung zu gründen. Als ich das Haus gerade übernommen hatte, kam eine freundliche Diplomatin aus Schweden zu mir, die im EU-Büro in Kabul für Menschenrechtsfragen zuständig war und deren Name mir nicht mehr einfällt. In dem Raum hatte ich nur einen Stuhl, einen Schreibtisch und einen von der Uno gespendeten Computer, jedoch keinen zweiten Stuhl, auf dem sie hätte sitzen können.

»Nun haben diese muskulösen selbst ernannten Helden die Macht übernommen und alles abgeschafft, was darauf hindeutet, dass es in Afghanistan auch Frauen gibt.«

Der Raum war kalt. Es war Ende Februar 2002. Der Winter ist ungemütlich in Kabul. Wir sprachen 45 Minuten lang; sie verließ mein Büro und kam nach einer halben Stunde mit zwei elektrischen Heizgeräten zurück. Sie sagte: »Sima, dein Zimmer ist so kalt, ich habe diese Heizgeräte mitgebracht, um wenigstens deinen Raum zu wärmen.« Ich dankte ihr und sagte: »Aber es gibt keinen Strom in diesem Gebäude!«

Ich musste um alles betteln. Ich stritt mit verschiedenen politischen Gruppen, die alle meine Arbeit blockieren wollten. Aber ich machte das Ministerium in drei Monaten voll funktionsfähig. Ich stellte Personal ein, begann mit Computerkursen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erstellte einen strategischen Plan zur Förderung der Gleichstellung in Afghanistan und eröffnete einige Abteilungen des Ministeriums in den Provinzen. Nach dem Ende der Interimsregierung, die sechs Jahre dauerte, übergab ich der nächsten Frauenministerin ein funktionierendes Ministerium mit einer klaren Vision.

Ich erzähle Ihnen von dieser Anfangszeit, damit Sie vielleicht etwas nachvollziehen können, wie sehr es mich schmerzt, dass diese Qualen des Anfangs, dass die ganze wertvolle Arbeit, die in den Jahrzehnten danach folgte, nun zunichte ist.

Was hat das Frauenministerium den Frauen gebracht? Nun, allein, dass es existierte, zeigte den Frauen, dass sie in der afghanischen Gesellschaft – nach dem Ende der Taliban-Herrschaft – wieder mitgedacht wurden. Dass sie ein Teil davon sind. Sie haben gemerkt, dass es in der Regierung eine Kraft gab, die ihre Anstrengungen auf sie legte – als Töchter, Mütter, Großmütter, Ehefrauen, Geschäftsfrauen, Schulmädchen, Studierende.

Das Ministerium kämpfte dafür, dass Frauen in allen Bereichen der Politik mitgedacht wurden. Wir kämpften für die Gleichstellung der Geschlechter im Land.

Jetzt gibt es das Ministerium nicht mehr. Das wird dazu führen, dass Frauen wieder verleugnet werden, sie in vielen Bereichen erneut ausgeschlossen werden. Wer würde die Regierenden auch davon abhalten?

Denn diese muskulösen selbst ernannten Helden, die die Macht übernahmen, haben sofort alles abgeschafft, was darauf hindeutet, dass es in Afghanistan auch Frauen gibt. Es macht mich so traurig, mitansehen zu müssen, wie der Traum von Millionen Frauen schwindet, die sich ja nur wünschen, was sich alle Menschen überall auf der Welt wünschen: Freiheit.

Redaktion und Übersetzung: Maria Stöhr

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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