Berufungsverhandlung in Moskau Ein neuer Nawalny

Nawalny am Samstag in Moskau
Foto: Alexander Zemlianichenko / APAlexej Nawalny zeigte sich an diesem Samstag von einer ungewohnten Seite. Eigentlich ist der russische Oppositionspolitiker bekannt für seinen trockenen Humor, seine Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten. Dass derselbe Nawalny sich auf Gott berufen, die Bergpredigt zitieren und seinen Glauben hervorkehren würde, hatte kaum jemand erwartet in jenem Moskauer Gerichtssaal, in dem Nawalny auftrat.
Entschieden wurde dort in zweiter Instanz, ob der Kremlgegner eine schon 2014 verhängte Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren antreten muss oder nicht. Ein Bezirksgericht hatte in erster Instanz entschieden, dass Nawalny 2020 Bewährungsauflagen verletzt habe. Der Politiker war im vergangenen August vergiftet worden – mutmaßlich vom Inlandsgeheimdienst FSB – und wurde daraufhin in Deutschland behandelt. Im Januar war er freiwillig nach Russland zurückgekehrt und festgenommen worden.
Er werde »über Gott und Erlösung reden. Ich werde sozusagen den Pathos-Regler aufs Maximum hochdrehen«, warnte Nawalny den Richter. Er sei ein gläubiger Mensch, auch wenn das nicht immer so gewesen sei und manche seiner Mitstreiter darüber spotteten. Aber der Glaube »hilft mir in meiner Tätigkeit, weil alles viel, viel einfacher wird«, sagte er.
»Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden«, zitierte Nawalny aus der Bergpredigt. Das möge exotisch und seltsam klingen, aber die Überzeugung, dass sich am Ende die Wahrheit durchsetze und der Durst nach Gerechtigkeit gestillt werde, sei im Grunde die wichtigste politische Idee Russlands. Nawalny zitierte auch den russischen Kult-Krimifilm »Brat 2«: »Die Kraft liegt in der Wahrheit«, lautet der beliebteste Spruch des Helden, außerdem »Harry Potter« und die Zeichentrickfilmserie »Rick and Morty«. Kurz: Er war bemüht, mit popkulturellen Zitaten den Pathos-Regler wieder herunterzudrehen.
Dabei blieb er aber stets ernst und richtete seine Worte nicht – wie in früheren Verhandlungen – gegen Wladimir Putin, sondern auf das bessere, gerechtere, wohlhabendere Russland, das ihm vorschwebe. Statt vom Präsidenten sprach er von Renten, Lebenserwartung, Löhnen. »Russland wird frei sein«, dieser Slogan der Opposition komme ihm mittlerweile ungenügend vor, sagte Nawalny. »Wir sind ein sehr unglückliches Land. Wir sind vom Unglück umgeben und können uns nicht daraus befreien. Deshalb schlage ich vor, den Slogan zu ändern. Russland muss nicht bloß frei, es muss auch glücklich sein. Russland wird glücklich sein.«
Nawalnys Worte hatten keinen Einfluss auf die Entscheidung der Berufungsinstanz. Nach kurzer Bedenkzeit bestätigte der Richter, dass der Politiker die 2014 wegen angeblichen Betrugs verhängte Freiheitsstrafe antreten muss. Er ignorierte die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil von 2014 in der Strafsache »Yves Rocher« scharf kritisiert und zuletzt Nawalnys unmittelbare Freilassung gefordert hatte.
Aber dafür hat Nawalny die politische Bühne, die ihm dieser Prozess bot, auf neue und vermutlich bessere Weise genutzt als in bisherigen Verhandlungen. Vielen Russen ist Nawalnys Auftreten zu giftig und angriffslustig. Andere sehen in ihm jenen Feind konservativ-christlicher Werte, als den ihn das russische Fernsehen darstellt. Beiden Gruppen zeigte sich am Samstag ein unerwarteter, neuer Nawalny.
Freiheitsstrafe ab sofort
Im Gerichtssaal waren rund 50 zumeist russische Journalisten vertreten, dazu einige ausländische Diplomaten, nicht aber Nawalnys Ehefrau Julija. Von ihr konnte der Gefangene immerhin ein Interview und Fotografien in der Modezeitschrift »Harper’s Bazaar« sehen, die ihm sein Anwalt zeigte.
Die Verhandlung dauerte samt Urteil nur zwei Stunden. Die Staatsanwältin wiederholte bekannte Vorwürfe in neuen Worten. Nawalny habe sich nach seinem Aufenthalt im Berliner Krankenhaus Charité nicht ordentlich bei der Justizvollzugsbehörde gemeldet, sagte sie. Stattdessen habe er Interviews gegeben, Spaziergänge unternommen, Fotos aus dem Schwarzwald auf Instagram geteilt. »Sieht so der Zeitvertreib eines Kranken aus? Wo hätten die Justiz-Inspektoren ihn amtlich melden sollen? Im Wald, am Wasserfall, am See?«, fragte sie spitz.

Nawalny: Bizarrerweise folgte unmittelbar auf die Gerichtsverhandlung eine weitere
Foto:MAXIM SHEMETOV / REUTERS
Mit der Entscheidung des Moskauer Stadtgerichts muss Nawalny seine Freiheitsstrafe ab sofort in einer Strafkolonie antreten. Bisher ist er im Moskauer Untersuchungsgefängnis »Matrosenstille« untergebracht. Von den dreieinhalb Jahren des 2014 verhängten Urteils muss er nur noch zwei Jahre, sechs Monate und zwei Wochen absitzen. Das entschied das Gericht nach neuer Anrechnung jener Fristen, die der Politiker bereits im Hausarrest verbracht hat. Nawalny nahm die Urteilsverkündung ungerührt entgegen. Dem Korrespondenten rief er fröhlich zu: »Gruß an den SPIEGEL!«
Zweite Verhandlung wegen angeblicher Verleumdung
Bizarrerweise folgte unmittelbar auf die Gerichtsverhandlung eine weitere – wieder mit einem letzten Wort des Angeklagten. Der Zeitersparnis halber hatte man beide Verfahren in denselben Gerichtssaal im Babuschkinski-Bezirksgericht am Stadtrand Moskaus verlegt.
War es am Vormittag um Nawalnys angebliche Verletzung von Bewährungsauflagen gegangen, so ging es am Nachmittag um seine angebliche Verleumdung eines Weltkriegsveteranen. Nawalny hatte im Sommer 2020 einen gehässigen Tweet gegen einen Werbefilm des Kreml-Senders »Russia Today« veröffentlicht. Darin hatten Putin-Anhänger – darunter ein medaillenbehängter Veteran – für eine Verfassungsreform geworben, die Wladimir Putin weitere Amtszeiten ermöglicht. Nawalny nannte die Fürsprecher pauschal »Speichellecker« und »Verräter«.
Zwar droht ihm für die Verleumdung keine Haftstrafe, dafür hat das zweite Strafverfahren Auswirkungen auf Nawalnys Ruf. Jede Kritik an Veteranen gilt in Russland derzeit als unpatriotischer Tabubruch. Anstatt Veteranen mit guten Renten zu versorgen, werde ihre Verehrung nur vorgetäuscht, um von anderen Themen abzulenken, sagte Nawalny nun: »Unsere Staatsmacht, von Putin über die Partei ›Einiges Russland‹ bis zu Ihnen hier hat sich in ein riesiges Schwein verwandelt, das aus einem Trog voller Öl-Dollars frisst, und wenn jemand ihm an den Kopf klopft und sagt: ›Hallo, das ist aber für alle!‹, dann hebt es seinen Kopf und sagt: ›Was? Wir lassen nicht zu, dass Veteranen beleidigt werden!‹«
Am Samstagabend erging das Urteil im Verleumdungsverfahren: Zusätzlich zu seiner Haftstrafe muss Nawalny demnach eine Geldstrafe von 850.000 Rubel (etwas mehr als 10.000 Euro) zahlen. Nawalny hätte die Verurteilung mit einer öffentlichen Entschuldigung bei dem betroffenen Veteranen Ignat Artemenko vermeiden können, tadelte ihn die Staatsanwältin nach der Urteilsverkündung. Das habe er nicht getan.
Dann holte sie selbst zur Rufschädigung aus: Nawalnys Biografie und die Handlungen seiner Anhänger zeugten davon, dass er »den Sieg unseres Landes im Großen Vaterländischen Krieg prinzipiell diskreditiere«. Es war das griffige Zitat, das das Kreml-Fernsehen für die Abendnachrichten brauchte.
Anmerkung: In einer früheren Version des Texts hieß es, Nawalny habe den Tweet, in dem er den Veteranen beleidigt haben soll, im Juni 2000 abgesetzt. Damals gab es Twitter noch gar nicht. Richtig ist, dass der inkriminierte Tweet im Sommer 2020 veröffentlicht wurde. Wir haben den Fehler korrigiert.