Kremlkritiker in deutscher Klinik Befunde der Charité weisen auf Vergiftung Nawalnys hin

Seit Samstag befindet sich Alexej Nawalny in der Berliner Charité. Jetzt äußerte sich die Klinik zu ersten Befunden - den Ärzten zufolge wurde der Kremlkritiker offenbar mit einer bisher nicht bekannten Substanz vergiftet.
Charité in Berlin: Spätfolgen seien zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen

Charité in Berlin: Spätfolgen seien zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen

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Paul Zinken / dpa

Klinische Befunde weisen laut der Berliner Charité auf eine Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny hin. Die Befunde deuteten "auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer" hin, wobei die konkrete Substanz bislang nicht bekannt sei, erklärte die Charité. Der bekannte Anti-Korruptions-Aktivist und scharfe Kritiker von Russlands Präsident Wladimir Putin wird seit dem Wochenende in der Berliner Klinik behandelt.

Nawalny befindet sich demnach auf einer Intensivstation und ist weiterhin im künstlichen Koma. Sein Gesundheitszustand sei ernst, es bestehe aber keine akute Lebensgefahr, hieß es weiter von der Charité. Entsprechend der Diagnose werde der Patient mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Der Ausgang der Erkrankung bleibe unsicher, und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, könnten zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.

Cholinesterasehemmer werden in der Medizin eingesetzt, etwa um Muskelschwäche zu behandeln. Sie sind aber auch als Nervengifte bekannt. So gehört etwa Nowitschok zur Gruppe der Cholinesterasehemmer. Der Anschlag auf den britisch-russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter 2018 machte das Mittel bekannt.

Cholinesterasehemmer blockieren ein Enzym, das im Körper den Neurotransmitter Acetylcholin abbaut. Dadurch wird die Kommunikation zwischen Nervenzellen gestört, das Gehirn kann Informationen nicht mehr richtig verarbeiten. Auch die Steuerung der Muskeln kann betroffen sein. Acetylcholin ist etwa an der Bildung von Erinnerungen, am Lernen und der Wahrnehmung beteiligt.

Laut dem belgischen Chemiewaffenexperten Jean-Pascal Zanders spricht die Gabe des Gegenmittels Atropin dafür, dass "irgendeine Form von Nervengift" zum Einsatz kam - auch wenn es in der Presseerklärung der Mediziner keinen Hinweis darauf gebe, um welche Substanz es genau gehe, sagte Zanders dem SPIEGEL. Atropin werde bei einem Kontakt mit Nowitschok, aber auch nach Vergiftungen durch die Chemiewaffen Sarin oder VX gegeben, so Zanders.

Angaben der Klinik zufolge sind die behandelnden Ärzte mit Nawalnys Ehefrau in engem Austausch. Im Einvernehmen mit seiner Ehefrau gehe die Charité davon aus, dass die öffentliche Mitteilung zum Gesundheitszustand in seinem Sinne sei.

Seit dem Wochenende in der Charité

Nawalny ist seit Jahren einer der bekanntesten Widersacher von Kremlchef Putin. Der Aktivist hat sich mit seinen Recherchen zu Korruption und Machtmissbrauch viele Feinde gemacht. Nawalny spricht dieses Thema so deutlich an wie kaum jemand sonst in Russland. Seit Donnerstag liegt er im Koma. Zunächst wurde er in einem Krankenhaus in Sibirien versorgt, am Wochenende aber in die Charité überstellt.

Noch immer sind die genauen Umstände des Falls unklar. Nawalny hatte bei einer Reise in Sibirien in einem Flugzeug unter Schmerzen das Bewusstsein verloren. Zudem wurde bekannt, dass er bei dem Aufenthalt in Sibirien von Sicherheitskräften beschattet worden sein soll. Nawalnys Umfeld geht davon aus, dass er durch einen Tee vergiftet wurde, den er kurz vor dem Abflug trank.

Bereits zuvor hatte die Bundesregierung angegeben, dass sie einen Giftanschlag auf Nawalny für möglich halte. Es handele sich um einen Patienten, "auf den mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Giftanschlag verübt worden ist", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Seibert begründete damit, dass sich das Bundeskriminalamt (BKA) um die Sicherheit Nawalnys kümmert.

Nach den Worten russischer Ärzte wurde der Kremlkritiker nicht vergiftet. "Wir haben sein Leben mit großer Mühe und Arbeit gerettet", sagte Chefarzt Alexander Murachowski auf einer Pressekonferenz in der sibirischen Stadt Omsk, wo Nawalny bis zu seiner Ausreise nach Deutschland behandelt worden war. "Wenn wir eine Art Gift gefunden hätten, das sich irgendwie bestätigt hätte, wäre es für uns viel einfacher gewesen."

Es wäre eine klare Diagnose, ein klarer Zustand und eine bekannte Behandlungsweise gewesen, fügte Anatoli Kalinitschenko, ein leitender Arzt des Krankenhauses, hinzu. Die behandelnden Ärzte wiesen zudem Vorwürfe zurück, die Ausreise Nawalnys auf Druck der Behörden verzögert zu haben.

asc/jme/dpa/AFP
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