Das neue Argentinien Ein Land bekämpft sein Post-Pandemie-Trauma

Die Tangosängerin Nelida Astorga im Viertel La Boca in Buenos Aires
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGEL
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Nelida Astorga steht an ihrer Straßenecke in Buenos Aires. Sie trägt die Lippen rot, die Nägel pink und eine Netzstrumpfhose, die an einer Stelle genäht ist. Früher standen die Touristen Schlange, um ein Foto mit ihr zu machen. Früher schoben sich Massen durch die engen Gassen zwischen den bunt bemalten Wellblechhäuschen im ehemaligen Einwandererviertel La Boca. Astorga, 57, sang und tanzte Tango für sie.
Heute sind die Marktstände und Restaurants immer noch leer. Kaum Europäer kommen, auch die Chilenen und Brasilianer bleiben eher fern.
Viele von Astorgas Kolleginnen und Kollegen haben aufgegeben. Doch sie will sich keinen anderen Job suchen. Seit 30 Jahren wirkt sie an dieser Straßenecke. Schon ihr Vater stand hier, erzählt sie stolz. Monatelang war ihr die Arbeit wegen der Pandemie verboten. Sie vermisste sie bitterlich. Jetzt ist Astorga froh, wieder hier sein zu können – auch wenn sie nur noch rund die Hälfte verdient und dafür doppelt so lange draußen steht.

Astorga und ihre Kollegen arbeiten jetzt doppelt so lange und verdienen nur noch die Hälfte
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGELEineinhalb Jahre lang schloss Argentinien seine Grenzen für Touristen, schottete sich rigoros ab. Das Land setzte in der Pandemie auf einen der längsten und härtesten Lockdowns weltweit. Fast acht Monate lang mussten die Menschen weitestgehend zu Hause bleiben. Schulen, Restaurants, Geschäfte blieben geschlossen. Selbst Putzhilfen und Schuhputzer durften ihren Berufen nicht nachgehen.
Die Folgen sind so dramatisch wie vielschichtig: Die ohnehin strauchelnde Wirtschaft schrumpfte 2020 um zehn Prozent. Inzwischen leben schätzungsweise 43 Prozent der Argentinier und Argentinierinnen unter der Armutsgrenze. Die Schulschließungen haben Bildungslücken hinterlassen, die die Ungleichheit vertiefen. Die drastischen Kontaktbeschränkungen haben die mentale Gesundheit der Menschen beschädigt, eine Art kollektives Trauma verursacht.
Während des langen Lockdowns saß die Tangosängerin Astorga in ihrer Wohnung, nur mit ihren Hunden. »Die Einsamkeit war schlimm«, sagt sie und lächelt, »die Unmöglichkeit, mit Menschen zu kommunizieren.« Sie habe viel geweint. Um ihre Rechnungen zu bezahlen, kochte sie zu Hause Essen, das dann an Büros ausgeliefert wurde. Ihr Bruder schickte etwas Geld aus Australien. Als sie immer trauriger wurde, begann sie mit Seelsorgern einer evangelikalen Kirchengemeinde zu telefonieren.
Astorga wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie setzt sich auf einen kleinen Holzstuhl auf dem Kopfsteinpflaster und isst einen Keks, hier, an ihrer Ecke. Die Sonne scheint. Seit Oktober hat sie ihren Alltag zurück. Was bleibt, ist die Unsicherheit. Astorga hat Angst vor dem Winter, vor der neuen Virusvariante Omikron, und das Gefühl, jeden Moment könnte man sie wieder nach Hause schicken, jeder Tag könnte der letzte hier draußen sein.

Die Restaurants im Touristenviertel La Boca sind leer, es kommen nur wenige Reisende aus dem Ausland
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGEL»Dieser Lockdown war zu lang«, sagt die Soziologin Marita Carballo. Er habe viel Schaden angerichtet, die psychische Gesundheit der Argentinierinnen und Argentinier beschädigt. Im Rahmen einer Studie verglichen sie und ihr Team eine Umfrage von 2015 mit den Daten während der Pandemie. »Wir waren schockiert über die Ergebnisse«, sagt Carballo, »Depressionen, Angst-, Schlaf- und Essstörungen, Energielosigkeit, der Konsum von Rauschmitteln, all das ist extrem angestiegen.« Es gebe ein grundsätzliches Gefühl der Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit.
Beunruhigend sei, dass dieser Pessimismus besonders die jungen Generationen ergriffen habe. »Die Jugend hat unter den Einschränkungen am meisten gelitten«, sagt Carballo, »ihr Glaube an eine bessere Zukunft ist weg.«

Die Soziologin Marita Carballo erforscht das Glücksgefühl der Argentinier
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGELDie Zahl der Coronafälle liegt in Argentinien derzeit auf niedrigem Niveau; die Impfquote ist hoch. Seit Oktober hat in Buenos Aires alles wieder geöffnet – unter strikten Hygieneauflagen. Doch die Stadt ist nicht mehr die gleiche: Im Zentrum überall heruntergelassene Fensterläden, überall Schilder: zu vermieten, zu verkaufen. Der »Extasy«-Sexshop hat überlebt, eine Filiale des Geschenkladens »I Love Gifts« nicht. Alle 20 Meter bietet jemand Dollar auf dem Schwarzmarkt an, es ist so ziemlich die einzige Möglichkeit für die Menschen, um etwas Geld beiseitezulegen. Die eigene Währung verliert ständig an Wert. Die Inflationsrate liegt bei rund 50 Prozent.
Der Konjunkturrückgang fiel in Argentinien besonders drastisch aus, das Land steckte schon vor Corona in einer Dauerkrise: 2020 war das dritte Jahr Rezession in Folge. Viele ausländische Investoren sind inzwischen abgewandert, ebenso argentinische Unternehmer. Landesweit wird von 90.000 kleinen und mittleren Unternehmen ausgegangen, die die Pandemie nicht überstanden haben. Aus formellen Jobs wurden vielfach informelle. Der finanzielle Spielraum der linken Regierung von Alberto Ángel Fernández ist zudem stark eingeschränkt: Argentinien verhandelt derzeit über die bald fällige Rückzahlung von 45 Milliarden US-Dollar an den Internationalen Währungsfonds.

Der Schuhputzer Oscar Alfredo wartet im Stadtzentrum auf Kundschaft
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGEL»Früher habe ich so viel Geld verdient, dass ich fast ein schlechtes Gewissen hatte«, sagt Sebastián Airaldi, 51, und lacht. Er sitzt im Traditionscafé La Biela gleich neben dem alten Friedhof im Nobelviertel Recoleta. Airaldi ist selbst ernannter Experte für Buenos Aires, arbeitete als Touristenführer. Seine Kunden waren Amerikaner, Europäer, Russen. Sie zahlten in Dollar, die Währung lässt sich auf dem Schwarzmarkt für das Doppelte des offiziellen Kurses in argentinische Pesos eintauschen.
Als die Pandemie kam, verließ Airaldi die Stadt und mietete sich ein kleines Apartment am Strand. »Ich war von einem Tag auf den anderen nutzlos«, sagt er. Jeden Morgen sah er die Nachrichtensendungen und kein »Licht am Ende des Tunnels«. Er lebte von seinen Ersparnissen, »aber das kann man nur machen, wenn man weiß, für wie lange«. Er wusste es nicht. An düsteren Tagen dachte er über das Ende der Menschheit nach.

Sebastián Airaldi kann endlich wieder den Friedhof von Recoleta besuchen
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGELSchließlich begriff Airaldi, dass er sich etwas anderes suchen musste. Er kehrte nach Buenos Aires zurück und bot sich im Netz als Englischlehrer an – für zehn Dollar pro Stunde. »Wir sind ja inzwischen ein Billiglohnland wie Bangladesch«, sagt er. Etwa zehn Prozent seines früheren Verdienstes kommen so rein, rund tausend Euro monatlich. Für Buenos Aires sei das immer noch ein gutes Einkommen. Die Stadt wurde kürzlich in einem Ranking des Magazins »The Economist« zur günstigsten Metropole der Welt gekürt.
Es gab eine Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, da hatte Argentinien eines der weltweit höchsten Einkommen pro Kopf. Damals bauten sie in Recoleta einen Palast neben dem anderen und in Frankreich pflegte man die Redewendung: »reich wie ein Argentinier«.

Armenviertel in Buenos Aires: Wohl kein anderes Land hat in den vergangenen 120 Jahren so viel Reichtum vernichtet
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGELWohl keine andere Nation hat in den vergangenen 120 Jahren so viel Reichtum vernichtet, und das fast ganz ohne Krieg. Regierung, Staat und auch viele Bürger lebten stets über ihre Verhältnisse. Geld wurde verschwendet, durch Korruption, politische Fehlentscheidungen und den schlichten Unwillen, zu sparen. Das Wirtschaftsmagazin »Brand eins« verglich die Geschichte Argentiniens mit der vom »Hans im Glück«, der sich mit einem Goldklumpen auf den Heimweg macht und am Ende mit leeren Taschen ankommt.
Die Coronakrise ist insofern nur ein weiteres Element des wirtschaftlichen Niedergangs, ein Faktor, der gerade die Tourismusbranche hart getroffen hat. 2019 bereisten mehr als sieben Millionen Menschen das Land. Im ersten Halbjahr 2021 waren es rund 90 Prozent weniger als vor der Pandemie.

Buenos Aires: Ende des 19. Jahrhunderts hatte Argentinien eines der weltweit höchsten Einkommen pro Kopf
Foto: Martin Moxter / IMAGOVom Fenster seiner Wohnung aus blickte Airaldi jeden Tag auf sein altes Leben herunter: den berühmten Friedhof, über den er so viele Reisende geführt hatte, eine der größten Attraktionen der Stadt. Es schmerzte. Airaldi kennt jeden Grabstein und jede Anekdote, vom Streit um die sterblichen Überreste der berühmten Präsidentengattin Evita Peron bis hin zum Selfie-Unfall eines Spaniers, der eine Engelsstatue umarmte, die umfiel und ihm den Rücken brach.
Erst seit Dezember kann Airaldi wieder zwischen den Mausoleen umherspazieren. Die Freude über diesen Ort und über das Erzählen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Doch er macht sich Sorgen: Die Weltgesundheitsorganisation empfahl kürzlich allen über 60-Jährigen, auf Reisen zu verzichten. »Sie töten den Tourismus«, sagt Airaldi. Er hingegen empfehle »einen Booster-Shot und ein weiteres Bier«.
Die Argentinier, so beschrieb sie der Schriftsteller Marcos Aguinis einst in einem Essay, seien im Grunde Anarchisten. In der Pandemie fügten sie sich dem strengen Lockdown. Das, sagt die Soziologin Marita Carballo, habe die Gesellschaft verändert.

Straßenkreuzung in Buenos Aires während des Lockdowns
Foto: Marcos Brindicci / Getty ImagesFrüher, so berichtet Carballo, sei sie oft gefragt worden: »Wie kann es sein, dass die Menschen in Argentinien so zufrieden mit ihrem Leben sind? Offenbar unabhängig von der wirtschaftlichen Lage des Landes?«
Das liege nun mal daran, so Carballo, dass Glücklichsein zuallererst mit den sozialen Beziehungen eines Menschen zu tun habe. Und diese seien in Argentinien sehr gut. Grundsätzlich hätten die Menschen in Lateinamerika viele Freunde, feierten viele Partys, es gebe einen starken Familienzusammenhalt.
»Und genau dieses soziale Gewebe wurde während der Pandemie gestört«, sagt Carballo, »das macht diese Krise so besonders im Vergleich zu den vorherigen.« Das Ergebnis: Während sich 2017 noch 87 Prozent der Argentinierinnen und Argentinier sehr glücklich oder ziemlich glücklich fühlten, fiel der Wert 2021 auf 71 Prozent, knapp ein Drittel der Menschen fühlt sich sogar unglücklich oder sehr unglücklich. Besonders betroffen sind auch hier die Jungen und die Ärmeren.

Zwei Frauen gehen im Viertel Palermo spazieren. Unter dem langen Lockdown litten die jüngeren Generationen besonders stark
Foto: Anita Pouchard Serra / DER SPIEGELUnd dennoch, auch in diesen Tagen sind die Cafés jenseits der Touristenviertel voller Einheimischer, die Bars, Restaurants und Theater. Die Tickets für vier Konzerte der britischen Band Coldplay im River Plate Stadion der Stadt waren innerhalb von weniger als 36 Stunden ausverkauft. In den vielen Milongas treffen sich wieder die Hobby- und Profi-Tangotänzer jeden Alters, kurz nach dem Schuhwechsel fallen die Masken, ganz entgegen den Vorschriften. Die Menschen genießen die Freiheit.
»Wir sehen, dass den Leuten Erlebnisse wichtiger geworden sind als beispielsweise, Dinge zu kaufen«, sagt die Soziologin Carballo. Begegnungen würden nun sogar noch mehr wertgeschätzt. Sie ist der Meinung, dass die Erfahrung der Pandemie die Menschen zwar für immer verändert hat – aber gleichzeitig glaubt sie auch an die Resilienz der Argentinierinnen und Argentinier. »Wir haben so viele Krisen erlebt und überstanden«, sagt sie. Die Menschen seien es gewohnt, dass Systeme nicht funktionieren und sie sich ihren eigenen Weg suchen müssten. »Vielleicht kann uns das helfen, den Pessimismus zu überwinden.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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