Argentiniens geraubte Kinder Der lange Kampf der Großmütter um ihre entführten Enkel

Großmütter suchen wie Detektivinnen nach ihren verschwundenen Enkeln
Foto: EITAN ABRAMOVICH/ AFP
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Javier Matías Darroux Mijalchuk hatte lange den Verdacht, das Kind von Verschwundenen zu sein – auf seinen Adoptionspapieren war vermerkt, dass er 1977 als Baby in der Nähe der Marineschule ESMA in Buenos Aires gefunden wurde, dem größten Folterzentrum der argentinischen Militärdiktatur.
Als er sich an die Organisation Abuelas de Plaza de Mayo wandte, bestätigte ein DNA-Test 2019 seine wahre Herkunft: Mit Anfang 40 traf er seine Verwandten zum ersten Mal, die das Kind als vermisst gemeldet und selbst genetische Proben abgegeben hatten. Darroux Mijalchuks leibliche Eltern waren von Militärs entführt und wohl ermordet worden.
Rund 30.000 Studenten, Aktivisten und andere Regimekritiker wurden während der Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 gekidnappt und ermordet. Sie wurden gefoltert, dann teils betäubt und gefesselt aus Flugzeugen in den Fluss Río de la Plata oder ins Meer geworfen, andere erschossen und in Massengräbern verscharrt. Die Militärs entführten auch Kinder und zogen Babys, die in Folterzentren geboren wurden, selbst auf oder gaben sie an regimetreue Familien weiter.
Großmütter und andere Angehörige, die sich in der Organisation Abuelas de Plaza de Mayo zusammengeschlossen haben, suchen seitdem unermüdlich nach den verschwundenen Enkeln und versuchen bis heute, Täter, Komplizen und Familien, die sich die Kinder illegal angeeignet haben, vor Gericht zu bringen.

Rund 30.000 Argentinier verschwanden während der Diktatur – und Hunderte von Kindern
Foto: EMILIANO LASALVIA/ AFPVor zehn Jahren, im Februar 2011, mussten sich etwa die Ex-Diktatoren Jorge Rafael Videla sowie Reynaldo Bignone wegen mehrfachen Kinderraubs und der Weitergabe von Kindern an Regierungsanhänger vor Gericht verantworten. Der damals 86-jährige Videla wurde zu 50 Jahren Haft verurteilt, der 84-jährige Bignone erhielt eine Gefängnisstrafe von 15 Jahren.
Die Aufarbeitung der brutalen Militärherrschaft dauert bis heute an, derzeit laufen die Prozesse per Videoübertragung weiter. Doch der Kampf für Gerechtigkeit ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Die Täter sterben nach und nach, und auch die Großmütter haben ein fortgeschrittenes Alter erreicht.
Die Historikerin Isabella Cosse erforscht die Kindesentführungen während der Diktatur, sie koordiniert derzeit auch ein neues Dokumentationsprojekt, das Beweise, Aufnahmen und Dokumente archivieren und öffentlich zugänglich machen soll. Im Interview erklärt sie, welche Rolle Kinder in der politischen Strategie des Regimes spielten und wie Angehörige nach den Verschwundenen fahnden.

Isabella Cosse, Jahrgang 1966, ist Historikerin und Forscherin beim argentinischen Rat für wissenschaftlich-technologische Forschung, an der Universität von Buenos Aires und an der Nationalen Universität von San Martín. Sie hat mehrere wissenschaftliche Bücher veröffentlicht und arbeitet derzeit mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung an einem Forschungsprojekt über Kinder in der Militärdiktatur und das internationale Echo auf die Menschenrechtsverbrechen.
SPIEGEL: Ist inzwischen bekannt, wie viele Kinder insgesamt in der Zeit der Militärdiktatur entführt wurden?
Isabella Cosse: Wir können die Anzahl der entführten Kinder nur schätzen. Die Organisation Abuelas de Plaza de Mayo geht von 500 Kindern aus – aber jeden Tag könnte eine neue Geschichte auftauchen. Die meisten von ihnen wurden in Gefangenschaft geboren, ihre Mütter sind nach der Geburt verschwunden, sie wurden wahrscheinlich ermordet. Andere Kinder sind zusammen mit ihren Eltern verschleppt worden. Die Großmütter haben nach ihnen gesucht und bis heute 130 dieser Kinder gefunden – sie sind jetzt Männer und Frauen in den Vierzigern.
SPIEGEL: Welches politische Kalkül steckte hinter den Kindesentführungen?
Cosse: Die Kinder wurden von den Militärs als Mittel benutzt, um ihre Eltern zu besiegen. Kindesentführungen waren Teil des Kalten Krieges und des Kampfes gegen die linken Bewegungen, die Veränderung forderten. Diese politischen Kräfte und Ideen sollten in der neuen Generation völlig eliminiert werden. Die Regierung wollte die Kinder umerziehen – auch Schulen setzten auf Disziplin und autoritäre Inhalte, Jugendliche wurden in jedem Bereich überwacht, auf der Straße, im Klub oder im Kino. Entführungen waren zudem ein Weg, um die Macht zu demonstrieren, die das Regime über das Leben der Aktivisten und ihrer Familien hatte.
SPIEGEL: Wie haben die Militärs die Kinder der Regimekritiker behandelt?
Cosse: Viele Kinder wurden mit der Absicht entführt, Informationen aus ihnen herauszubekommen, einige wurden sogar gefoltert. Sie haben Babys und Kinder benutzt, um die Eltern zum Reden zu zwingen – und damit gedroht, die Kinder leiden zu lassen. Andere Kinder, von denen die meisten in Gefangenschaft geboren worden sind, wurden durch illegale Adoptionen in vermeintlich »gesunde«, also dem Militärregime gegenüber loyale, Familien vermittelt.
SPIEGEL: Wussten diese Familien von der Herkunft der Kinder?
Cosse: In vielen Fällen handelte es sich um die Familien der Militärs, die die Eltern dieser Kinder getötet und gefoltert hatten. In anderen Fällen jedoch wurden die Kinder von Familien aufgenommen, die nicht genau über ihre Herkunft Bescheid wussten.
SPIEGEL: Wie gehen Organisationen wie Abuelas de Plaza de Mayo bei der Suche nach den verschwundenen Kindern vor?
Cosse: Nachdem ihre Kinder entführt worden waren, begannen viele Großmütter sofort mit der Suche nach ihren Kindern und den Enkeln. Sie fragten überall nach ihnen – in Militärkasernen, Krankenhäusern, Waisenhäusern, Polizeistationen und Kirchen. Niemand wollte ihnen Informationen geben. Estela Carlotto, die Präsidentin von Abuelas de Plaza de Mayo, sagt, dass sie wie Detektive arbeiteten: Sie befragten Leute, gaben Zeitungsanzeigen auf, meldeten die vermissten Kinder bei internationalen Menschenrechtsorganisationen und sammelten Hinweise auf illegale Adoptionen. Sie legten auch für jeden Fall eine Akte mit Informationen wie Zeugenaussagen und Familienfotos an.
SPIEGEL: Inwieweit spielt auch Technologie bei der Suche eine Rolle?
Cosse: Mit Unterstützung von Wissenschaftlern wurde etwa ein spezieller DNA-Test entwickelt, um die biologische Identität von Kindern herauszufinden, ohne dass eine Blutprobe der Eltern nötig war. Das Verfahren stellt die mögliche Verwandtschaft zwischen einem Enkelkind und seinen Großeltern fest und wurde nach den Großmüttern benannt: »índice de abuelidad« (Großelternschaft-Index). Nach dem Ende der Militärdiktatur wurden die Großmütter auch vom demokratischen Staat dabei unterstützt, ihre Tests fortzusetzen und eine genetische Datenbank zu erstellen.

Während eines Prozesses gegen Täter aus der Diktatur halten Angehörige Fotos mit Verschwundenen hoch
Foto: NICO AGILERA / Agencia EFE / imago imagesSPIEGEL: Wurden die Kindesentführer aus der Militärdiktatur mittlerweile zur Verantwortung gezogen?
Cosse: Mehrere Täter, die Kinder geraubt haben, sind bereits im Gefängnis. Aktuell werden weitere Strafverfahren geführt. Die während der Militärdiktatur entführten Kinder treiben heute auch selbst Verfahren gegen Militärs voran, die sich zwar selbst keine Säuglinge oder Kinder angeeignet haben, aber als Komplizen an Kinderentführungen beteiligt waren. Diese Klagen sind nicht nur ein Weg, um Gerechtigkeit zu erlangen – sie machen auch den Schmerz und das Leid der Betroffenen öffentlich.
SPIEGEL: Wie gehen die Betroffenen mit ihrer Vergangenheit um?
Cosse: Die Entführung und illegale Adoption von Kindern ist ein Verbrechen, das einen schrecklichen Einfluss auf die Psyche hat. Ihre wahren Geschichten herauszufinden, war sehr hart für sie. Sie sind aber unterschiedlich damit umgegangen. Es war etwas leichter, wenn sie in Familien aufgewachsen sind, die nichts mit der Diktatur zu tun hatten. Einige haben sich aktiv an die Großmütter gewandt, um die Wahrheit herauszufinden – andere wurden durch die Großmütter und die Justiz überrascht, die durch ihre Ermittlungen auf sie gestoßen waren. Die Großmütter haben einen psychologischen Beistand, der die Kinder unterstützt. Viele haben ihren eigenen Weg gesucht, um ihre Geschichten zu verarbeiten, etwa durch Kunst, Filme oder Literatur.
SPIEGEL: Die Großmütter sterben langsam aus. Übernehmen nun die Enkel selbst die Aufarbeitung?
Cosse: Die Großmütter haben sich früh um den Generationswechsel gekümmert und die Enkel in den Kampf um Gerechtigkeit eingebunden. Die Kinder von Verschwundenen haben auch ihre eigene Organisation H.I.J.O.S. gegründet, und viele übernehmen mittlerweile eine wichtige Rolle und mehr Verantwortung. Sie kümmern sich auch darum, dass Akten und Archive für zukünftige Generationen erhalten werden.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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