Armut in Nordengland »Ein Schokoriegel, das ist mein ganzes Essen«
Zwei Mahlzeiten am Tag – mehr ist gerade nicht drin für Ann und Keith Hartley. Die beiden Rentner leben gemeinsam von nur etwa 1.000 Pfund Pension im Monat, circa 1.200 Euro. Das Mittagessen müssen sie sich seit einiger Zeit sparen – Lebensmittel und Energie sind zu teuer geworden.
Ann Hartley, Rentnerin: »Dieses Essen kostet ungefähr 1,10 Pfund pro Person, und das für zwei Mahlzeiten.«
Das Ehepaar lebt in der nordenglischen Stadt Burnley – eine der ärmsten Gegenden des Landes. Die steigenden Preise für Energie und Lebensmittel treffen die Menschen hier mit am härtesten. Für die Hartleys kommt es noch schlimmer: Ihre Heizung ist kaputt. Die Reparatur können sie sich nicht leisten.
Keith Hartley, Rentner: »Der Heizkessel hat den Geist aufgegeben, als wir ihn brauchten. Das wurde zu einem Problem, weil wir es uns nicht leisten konnten.«
Ann Hartley, Rentnerin: »Es ist schrecklich kalt.«
Ihre Situation belastet das Rentner-Ehepaar. Ihr Leben lang zählten sie zur Mittelschicht. Jetzt, befürchtet die ehemalige Sekretärin Ann Hartley, rutschen sie und ihr Mann in die Unterschicht ab.
Ann Hartley, Rentnerin: »Meiner Meinung nach sollten wir uns in unserem Alter keine Sorgen machen müssen, wissen Sie? Und es ist nur eine weitere Sache, die man auf seinen Schultern trägt.«
Die Last der hohen Preise wiegt schwer vielen Schultern in Burnley. Ein Kamerateam der Nachrichtenagentur Reuters hat die Stadt besucht. Hier im Norden Englands, weit entfernt von der Metropole London, fühlt man sich abgehängt: Viele Häuser sind sanierungsbedürftig und schlecht gedämmt; der öffentliche Nahverkehr marode. Pfarrer Alex Frost kümmert sich um die Ärmsten in Burnley. Er sei stolz, die Menschen hier zu unterstützen. Doch auch er sieht den Verfall seiner Stadt:
Alex Frost, Pfarrer in Burnley: »Das hier ist die Gemeinde St. Matthews, in der ich arbeite und lebe. Ich liebe diesen Ort, aber er ist nicht das Schönste für's Auge, das ist klar. Hinter den Türen dieser Häuser verbergen sich Menschen, mit sehr interessanten – und auch schwierigen – Leben. Viele haben mit psychischen Problemen zu kämpfen – auch mit Suchtproblemen. Wenn ihr Toaster den Geist aufgibt oder die Schuhe ihrer Kinder abgenutzt sind, dann müssen diese Menschen eine Entscheidung treffen: Ersetze ich die Schuhe oder kaufe ich Essen?«
In Teilen Burnleys lebt jedes zweite Kind in absoluter Armut. Und das ohnehin knappe Geld ihrer Familien wird immer weniger wert. 13 Prozent Inflation – nirgendwo im Land sind die Preise seit einem Jahr massiver gestiegen. Dabei gehört die 95.000-Einwohner-Stadt bereits zu den ärmsten in Großbritannien. Der Vorsitzende des Stadtrats von Burnley macht die Regierung in London für die Krise verantwortlich. Der Sparkurs der konservativen Partei sei der Grund dafür, dass es jetzt an Sozialhilfe und anderen Geldern fehle:
Afrasiab Anwar, Vorsitzender des Stadtrats von Burnley: »Seit 2013/14 wurden Burnley und ähnlichen Orten fast 5 Millionen Pfund an öffentlichen Mitteln entzogen. Das hat einen massiven Einfluss darauf, was wir als Stadtrat tun können, um unsere Gemeinde zu unterstützen.«
Großbritanniens neuer Premierminister Rishi Sunak ist erst seit etwas mehr als einem Monat im Amt - seine Vorgängerin Liz Truss ist an ihrer dilettantischen Wirtschaftspolitik gescheitert. Sunak verspricht Stabilität, will Steuern erhöhen und staatliche Ausgaben senken. Dennoch sollen Renten und Sozialhilfen im kommenden Frühjahr angehoben werden, um die Inflation auszugleichen.
Rishi Sunak, Premierminister Großbritannien: »Ich gebe zu, dass Fehler gemacht wurden, und ein Teil meiner Aufgabe als Premierminister ist es, diese Fehler zu korrigieren. Und ich bin zuversichtlich, dass wir das können. Der Finanzminister hat es bereits gesagt: Natürlich werden schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Das werden wir gemeinsam tun.«
Doch bis zum Frühjahr ist es noch lang – und da der Staat vorerst nichts tut, muss Burnley sich selbst helfen. In der St. Matthew’s the Apsotle Kirche hat Pfarrer Alex Frost ein warmes Frühstück für seine Gemeinde organisiert – typisch britisch mit Würstchen im Brot. In den vergangenen Monaten hätten immer mehr Menschen um Hilfe gebeten, sagt der Pfarrer. In der sechstgrößten Wirtschaftsnation der Welt fehlt es an den grundsätzlichen Dingen: Wärme, Essen, Energie.
Alex Frost, Pfarrer in Burnley: »Es ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass die Menschen sich jetzt an Kirchen und Wohlfahrtsverbände wenden, um diese Lücke zu füllen.«
Pfarrer Alex Frost kümmert sich auch um die, die bereits durch alle sozialen Netze gefallen sind. Einer von ihnen ist Mark John Marsden.
Mark John Marsden, Sozialhilfeempfänger: »Ich habe kein Geld zum Leben, ich habe wirklich kein Geld mehr zum Leben. Es ist so schlimm geworden. Ich glaube, ich habe einen Schoko-Riegel in meinem Schlafzimmer, das ist mein ganzes Essen.«
Jahrelang lebte er hier – in diesem Wohnwagen in Burnley: Ohne Strom, Wasser und Toilette. Trotzdem musste er dafür jeden Monat Miete zahlen – die wurde von seinen Sozialleistungen abgezogen.
Alex Frost: »Kam die Polizei jemals vorbei? «
Mark John Marsden: »Nein.«
Alex Frost: »Sozialarbeiter?«
Mark John Marsden: »Eigentlich nicht.«
Alex Frost, Pfarrer in Burnley: »So sieht das moderne Großbritannien aus. Sie haben ihn gehört: Niemand wusste es, niemand kümmerte sich um ihn, niemand fragte, wie es ihm ging. Er hätte da drin tot sein können. Es macht einen einfach sprachlos.«
Mark John Marsden, Sozialhilfeempfänger: »Ich bin so müde, ich habe die Nase voll. Zum Glück bin ich nicht so mutig, mich umzubringen, aber manchmal denke ich daran.«
Alex Frost, Pfarrer in Burnley: »Wenn niemand eingreift, wird er sterben. Und wen kümmert das? Mich wird es kümmern. Wird es denen etwas ausmachen, die ihm im Laden sein Bier geben und seine geklauten Sachen kaufen? Es wird ihnen scheißegal sein. Und er wird nur eine weitere Nummer in der Statistik sein.«
Einer, der sich kümmert, ist James Anderson. Seine Firma bietet Klempner- und Sanitärarbeiten für bedürftige Menschen an – kostenlos oder zu sehr niedrigen Preisen. Die Armut in Burnley erlebt Anderson jeden Tag.
James Anderson, Klempner: »Wenn man so etwas sieht, öffnet es einem die Augen. Da fragt man sich: Was ist da los? Warum fallen diese Menschen durch das soziale Netz? Die Löcher in diesem Netz werden größer und größer und größer.«
Auch den kaputten Boiler von Ann und Keith Hartley tauscht der Klempner ohne Gegenleistung aus. Finanziert wird seine Arbeit durch private Spenden. Staatliche Stellen unterstützen Anderson nicht.
Keith Hartley, Rentner: »Es wäre extrem kalt geworden in der Weihnachtszeit ohne Heizkessel. Jetzt sieht es so aus, dass wir es warm haben werden.«
Ann Hartley, Rentnerin: »James ist ein Engel. Ein absoluter Engel.«
Großes freiwilliges Engagement, kleine Gesten und viele helfende Hände sind das, was den Menschen in Burnley Hoffnung gibt. Dabei ist es die Aufgabe des britischen Staates, zumindest die Grundbedürfnisse seiner Bürger abzusichern – doch die Regierung versagt. Und es sind immer die Ärmsten, die am meisten unter den Krisen leiden.
James Anderson, Klempner: »Neulich ging ich zu einer Frau und sprach mit ihr. Ich saß einfach da und umarmte sie, und in dem Moment, als ich sie umarmte, weinte sie, ich weinte und wir weinten zusammen. Und ich dachte: Das könnte meine Mutter sein, meine Oma, meine Tante. Wie würde ich mich fühlen, wenn mich jemand anruft und sagt, dass meine Mutter im Krankenhaus liegt oder dass sie versucht hat, sich umzubringen, weil sie kein Essen auf den Tisch bringen kann oder den Strom und das Gas und die Rechnungen nicht mehr bezahlen kann? Wie würde ich mich fühlen, wenn das passieren würde? Wie würden Sie sich fühlen? «