Attentäter von Wien So radikalisierte sich Kujtim F.

Polizisten im Stadtzentrum von Wien
Foto: Georges Schneider / dpaAls am Montagabend in der Wiener Innenstadt Tote und Verletzte gemeldet wurden, sah es erst so aus, als ob ein Terrorkommando durch die Straßen gezogen sei. An mehreren Orten fielen innerhalb weniger Minuten Schüsse: am Morzinplatz, am Fleischmarkt, am Franz-Josephs-Kai, in der Nähe der Synagoge in der Seitenstettengasse. Mehrere Attentäter wurden befürchtet, die aus Sturmgewehren wahllos auf Lokalbesucher und Passanten schießen, wie vor fünf Jahren in Paris.
Einen Tag später zeichnet sich immer deutlicher ab: Es war wohl nur ein Mann, der die Schüsse im Wiener Ausgehviertel abfeuerte, vier Menschen tötete und 22 weitere verletzte: Kujtim F., 20, geboren in Mödling bei Wien, Inhaber eines österreichischen und eines nordmazedonischen Passes.
Ausgestattet mit einer Kalaschnikow, einer Pistole und einer Machete schritt er zur Tat. Bis ihn ein Polizist mit einer tödlichen Kugel stoppte. Am Körper trug er einen Sprengstoffgürtel, der sich allerdings als Attrappe erwies. Es scheint, als habe der Angreifer seinen eigenen Tod eingeplant.
Der islamistische Terrorismus ist zurück
Ob es Hintermänner oder Helfer gab, ist noch offen. Am Abend nahm die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) den Anschlag für sich in Anspruch und bezeichnete den Attentäter als "Soldat des Kalifats". Dazu postete eine IS-nahe Agentur ein Selfie, das ihn offenbar mit seinen Waffen zeigt.
Wie der mutmaßliche Attentäter von Dresden, der am 4. Oktober auf ein schwules Paar einstach und einen Mann tötete, hatte Kujtim F. eine Jugendstrafe wegen Terrordelikten abgesessen. Er kam vorzeitig aus dem Gefängnis, einen Anschlag trauten ihm die Behörden offenbar nicht zu – eine fatale Fehleinschätzung.
Dresden, Conflans-Sainte-Honorine, Nizza, jetzt Wien: Der islamistische Terrorismus ist zurück in Europa. Nach dem Niedergang des IS in Syrien und im Irak wirkte es zunächst so, als wäre diese Gefahr eingedämmt. Größere, koordinierte Anschläge, so sahen es Sicherheitsexperten, waren unwahrscheinlicher geworden.
Doch die Ideologie der Islamisten, das zeigen die Taten der vergangenen Wochen, ist nicht so leicht aus den Köpfen ihrer Anhänger zu kriegen. Und verblendete junge Männer können auch mörderische Taten begehen, ohne von einer Terrorgruppe zum Töten ausgebildet worden zu sein.
In einem Urteil des Wiener Landesgerichts aus dem April 2019 ist nachzulesen, wie sich Kujtim F. radikalisierte. Er und ein zwei Jahre älterer Schulfreund besuchten fundamentalistische Moscheen in Wien und gerieten an salafistische Prediger. Im Internet konsumierten sie noch härtere Propaganda.
Das blieb auch dem österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung nicht verborgen: Der Geheimdienst stellte fest, dass die Freunde Anfang 2018 begannen, "sich intensiv mit den Ideen und Ideologien des IS auseinanderzusetzen", wie es in dem Urteil heißt. Über den Messengerdienst Telegram kamen sie in Kontakt mit IS-Mitgliedern in Syrien und dem Irak.
Im Juli 2018 verschickte Kujtim F. über seinen Telegram-Account ein etwa vierminütiges IS-Propagandavideo mit Gewehrsalven, Sprechgesängen und der ständig wiederholten Parole: "Es ist Zeit für den Heiligen Krieg für Gott. Lass mich kämpfen gegen die Tyrannen und den Ehrlosen, den Ungläubigen, den wahren Feind".
Einen Monat später beschlossen er und sein Kumpel, sich dem Ableger der IS-Terrormiliz in Afghanistan anzuschließen. Doch für den Flug von Wien nach Kabul fehlte ihnen das nötige Visum. Daraufhin stornierten die beiden ihre Tickets.
Im "Safehouse" der Terrormiliz
Eine Woche später versuchte Kujtim F. dann allein zum IS zu kommen, diesmal über Syrien. Am Morgen des 1. September 2018 bestieg er eine Turkish-Airlines-Maschine nach Istanbul. Von dort aus reiste er nach Hatay ins türkisch-syrische Grenzgebiet. Er wartete in einem Hotel, bis ihn ein Kontaktmann abholte und in ein "Safehouse" der Terrororganisation brachte. Dort traf Kujtim F. laut Urteil zwei Deutsche und einen Belgier, die offenbar ebenfalls auf eine Schleusung nach Syrien warteten.
Die Aktion verzögerte sich. Kujtim F. wurde von den türkischen Behörden verhaftet und nach Österreich ausgeliefert. Das Wiener Landesgericht verurteilte ihn im April 2019 wegen Mitgliedschaft in der Terrororganisation IS zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten.
Bei Gesprächen mit der Jugendgerichtshilfe zeigte sich Kujtim F. laut Urteil "aufgeschlossen und zugänglich", er sei "durchaus reflexionsbereit". Schon im Dezember wurde er aus der Haft entlassen.
Die Reue war offenbar nur gespielt. Österreichs Innenminister Karl Nehammer sagte, der Täter habe eine erfolgreiche Teilnahme an einem Deradikalisierungprogramm der Justiz nur vorgetäuscht, um früher freizukommen. Kujtim F. habe das Programm "brutal, perfide ausgetrickst", so der Minister. Auch nach seiner Entlassung gab er sich geläutert, bei seinen Bewährungshelfern habe er sich "besonders bemüht".