Proteste und Gewalt in Belarus Staatsmacht, Ohnmacht und der Zorn der Straße

Belarus erlebt nach der manipulierten Wahl Gewalt und Verfolgung: Hunderte sitzen in Haft, die Oppositionskandidatin Tichanowskaja musste das Land verlassen. Lukaschenkos Kritiker aber lassen sich nicht abschrecken.
Von Christina Hebel, Moskau
Einsatzkräfte in Minsk: Hunderte Festnahmen bei Protesten

Einsatzkräfte in Minsk: Hunderte Festnahmen bei Protesten

Foto: Natalia Fedosenko / imago images/ITAR-TASS

Am Ende sah Swetlana Tichanowskaja keine andere Wahl mehr für sich, als ihr Heimatland zu verlassen. Von einer sehr schweren Entscheidung spricht die Oppositionskandidatin in einem Video. Müde wirkt sie auf diesen Aufnahmen, ringt nach Worten. Sie habe gedacht, sagt die 37-Jährige, der Wahlkampf habe sie "wirklich abgehärtet" und "mir so viel Kraft gegeben, dass ich mit allem fertigwerde. Aber ich bin wohl immer noch die schwache Frau."

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Tichanowskajas Worte machen deutlich, unter welch enormem Druck sie gestanden hat und wie sehr sie zweifelt: "Ich weiß, dass mich viele Menschen verstehen werden, viele über mich urteilen werden, viele mich hassen werden."

Sie befindet sich nun im Nachbarland Litauen, "in Sicherheit", wie der litauische Außenminister Linas Linkevicius erklärte. Dort werden ihre zwei Kinder vermutet, die sie schon vor Wochen in Sicherheit brachte. Ihr Mann, der Videoblogger Sergej Tichanowski, sitzt seit Monaten in Belarus in Haft.

Tichanowskaja sei am Montag sieben Stunden lang festgehalten worden, sagte der litauische Minister. Belarussische Sicherheitskräfte hätten sie dann zur Grenze gebracht. "Es war die einzige Option", sagte Linkevicius in Interviews, Details nannte er nicht. Einem Medienbericht zufolge sei ihr gedroht worden, dass ihrem Mann etwas angetan werde. Dazu passt ein Video , das zuerst auf einem belarussischen Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, er gilt als staatsnah. Darin warnt Tichanowskaja die Menschen davor, weiter zu demonstrieren. Das Video wirkt inszeniert, Tichanowskaja liest die Erklärung vom Blatt ab, schaut kaum hoch, anders als in der ersten Aufnahme, in der sie frei spricht, in die Kamera schaut. Diese Aufnahme wurde auf dem YouTube-Kanal ihres Mannes hochgeladen.

"Swetlana hatte keine Wahl. Wichtig ist, dass sie in Freiheit und am Leben ist", sagte Olga Kowalkowa, Mitglied von Tichanowskajas Wahlteam.

Beispiellose Repressionswelle

Belarus ist einer der repressivsten Staaten Europas. Doch was derzeit dort passiert, ist beispiellos. Allein von Tichanowskajas Team sitzen sieben Mitglieder in Haft. Das zeigt, welch hohes Risiko die Oppositionellen eingegangen sind. Weronika Zepkalo, die mit Tichanowskaja vor Zehntausenden auftrat, hat Belarus ebenfalls verlassen. Es habe einen Haftbefehl gegen sie gegeben, sagt sie.

Faire und ehrliche Wahlen wollten die Frauen erreichen, das Land aber erlebte eine der schmutzigsten Abstimmungen. Unabhängige Wahlbeobachter meldeten zahlreiche und massive Wahlverstöße. Wie das Wahlergebnis in Wirklichkeit aussieht, ist schwer abzuschätzen. Aus den Unterlagen aus rund hundert Wahllokalen und Nachwahlbefragungen lässt sich ableiten, dass Tichanowskaja weit mehr als die ihr offiziell zugestandenen zehn Prozent der Stimmen bekommen hat. In vielen Wahllokalen gewann sie demnach gegen den autoritären Machthaber Alexander Lukaschenko, der für sich über 80 Prozent vermelden ließ. Zumindest einen zweiten Wahlgang hätte es wohl geben müssen.

Die Menschen fühlen sich um ihre Wahl, ihre Stimmen betrogen. Sie nehmen die gelenkte Wahlprozedur nicht mehr hin, die seit so vielen Jahren nur einen Gewinner kennt: Lukaschenko. Das ist auch das Verdienst von Tichanowskaja, die erklärt hatte, es sei ein Gewinn, dass die Menschen ihre Apathie und politisches Desinteresse überwunden hätten.

Protest auf der Straße - ohne Tichanowskaja

Die Stimmung im Land hat sich gewandelt - auch deshalb werden die Demonstranten nicht so schnell aufgeben. Sie sind von Anfang an ohne Tichanowskaja auf die Straße gegangen.

Sie wollte die Proteste auf der Straße nie als eine Art Jeanne d'Arc anführen, für die manch einer sie hielt. Sie wollte innerhalb des begrenzten rechtlichen Rahmens eine Veränderung für ihr Land herbeiführen. Immer wieder sprach sie über ihre Ängste, den Druck des Regimes, appellierte an die Sicherheitskräfte, keine Gewalt anzuwenden. Am Montag rief sie die Menschen auf, auf sich achtzugeben. "Kein Leben ist das wert, was jetzt geschieht." Und: "Das Wichtigste sind die Kinder." In der Nacht war ein Mann bei den Protesten in Minsk gestorben, Dutzende verletzt worden. Hunderte sollen festgenommen worden sein.

Demonstranten errichten Barrikaden in Minsk

Demonstranten errichten Barrikaden in Minsk

Foto: VASILY FEDOSENKO/ REUTERS

Blendgranaten, Gummigeschosse, Tränengas

Doch auch am Montagabend gingen Tausende in der belarussischen Hauptstadt und zahlreichen anderen Orten des Landes auf die Straße. Viele junge Menschen sind auf den Bildern zu sehen - vor allem in Minsk, aber eben nicht nur. Die Wut und der Frust der Menschen scheinen größer als ihre Angst vor Repressionen. Längst geht es nicht mehr nur um die manipulierte Wahl, sondern auch um die Gewalt, mit der Lukaschenko auf die Proteste antwortet. In vielen Städten kamen auch Militäreinheiten zum Einsatz. Sicherheitskräfte schlagen mit Schlagstöcken auf friedliche Demonstranten ein, feuern Blendgranaten und Gummigeschosse ab, verwenden Tränengas.

Videos zeigen, wie Menschen herbeieilen und "Schande" rufen, wenn schwarz gekleidete Sicherheitskräfte auf Protestierende einschlagen. Der Zorn über die brutale Behandlung der Demonstranten ist groß: Bilder wie etwa  von Festgenommenen, die gezwungen werden, auf dem Boden liegend auszuharren, steigern ihn nur noch.

Sicherheitskräfte bei der Festnahme von Demonstranten

Sicherheitskräfte bei der Festnahme von Demonstranten

Foto: Sergei Grits/ AP

Mehr Gewalt - dezentraler Protest

Die zweite Protestnacht, so wirkte es in den Berichten in Telegram-Kanälen und unabhängigen Medien, war noch gewaltvoller als die erste. Da Lukaschenko das Internet weitgehend blockiert, bleibt vor allem Telegram als Informationskanal. Dort zeigt sich in Gruppen wie Belamova und Nexta vor allem die Wut der Jungen. Auffällig ist, dass die Demonstrierenden ihren Protest dezentralisierten, sich an mehreren Stellen in Minsk sammelten und anfingen, sich zu organisieren. Über Telegram-Kanäle schickten sie sich Zutrittscodes für Wohnhäuser, um sich dort vor Einsatzkräften in Sicherheit bringen zu können. Auch erste Barrikaden wurden in der Nacht errichtet, es gibt Berichte über Molotowcocktails, die von Protestierenden geworfen wurden. Unabhängig überprüfen lassen sie sich nicht.

Lukaschenko hat für Dienstag eine Sitzung seines Sicherheitsrats einberufen. Es gibt Gerüchte, er wolle eine Ausgangssperre für die kommenden Nächte verhängen.

Der Widerstand sucht sich derweil schon andere Formen: In ersten staatlichen Betrieben wie einem Elektrizitätswerk in Minsk und der Zuckerfabrik in Schabinka, einem Ort im Südwesten von Belarus, legten Arbeiter aus Protest gegen die Wahl ihre Arbeit nieder. Das ist nicht der angekündigte Generalstreik, doch es zeigt, dass sich auch Angestellte der Staatsbetriebe nicht mehr scheuen, gegen Lukaschenko aufzubegehren.

Warum wir statt Weiß­russ­land nun Belarus schreiben

Lange hat der SPIEGEL von Weißrussland geschrieben, wenn die Rede war von dem Staat zwischen dem Baltikum und Polen, der Ukraine und Russland. Offiziell nennt sich das Land seit seiner Unabhängigkeit 1991 nach dem Ende der Sowjetunion Republik Belarus, kurz Belarus. "Bela" bedeutet "weiß", "rus" verweist auf jenes früheres osteuropäisches Herrschaftsgebiet, das als Kiewer Rus bekannt war. Das heutige Territorium der Republik Belarus war Teil davon.

Um deutlich zu machen, dass es sich bei Belarus um einen souveränen Staat handelt, der nicht Teil Russlands ist, hat das Auswärtige Amt seit geraumer Zeit begonnen den offiziellen und zeitgemäßen Namen zu verwenden. Der SPIEGEL schließt sich dieser Entwicklung an und wird künftig Belarus statt Weißrussland schreiben, Weißrussinnen und Weißrussen nun als Belarussinnen und Belarussen bezeichnen.

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