Proteste in Belarus "Sie kamen mit Schlagstöcken, um uns zur Arbeit zu treiben"

Nichts fürchtet der belarussische Diktator Lukaschenko so sehr wie Streiks in den Staatsbetrieben. Wer protestiert, wird verfolgt und eingeschüchtert. Hier erzählen Staatsbedienstete, warum sie trotzdem weitermachen.
Von Christina Hebel, Moskau
Arbeiter des Düngemittelherstellers Grodno Azot im August

Arbeiter des Düngemittelherstellers Grodno Azot im August

Foto: Donat Sorokin / ITAR-TASS / imago images

Es sollte ein Generalstreik werden, so hatte es die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja angekündigt. Seit Montag haben sich unter anderem Ärzte, Lehrer, Studenten, Regisseure, Schauspieler, IT-Mitarbeiter und Betreiber von Cafés und Geschäften den Aktionen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko angeschlossen.

Die Proteste haben dadurch neuen Aufwind bekommen, doch der Kern der Wirtschaft - die Staatsbetriebe - funktioniert größtenteils weiterhin. Etwa Dreiviertel der belarussischen Unternehmen sind im Besitz des Staates oder werden von ihm mehrheitlich kontrolliert. Lange galten die Arbeiter als treue Anhänger Lukaschenkos, weil sie im Vergleich gute Löhne und Sozialleistungen erhalten.

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Dass einige von ihnen nun aufbegehren, ist bemerkenswert. Allerdings trauen sich bisher nur wenige, dies offen zu tun. Der Druck, der auf ihnen lastet, ist enorm. Lukaschenko hat den Protestierenden inzwischen Terrorismus vorgeworfen und Sicherheitsbeamte in die Staatsbetriebe geschickt. Dutzende Arbeiter wurden in den vergangenen Tagen festgenommen und entlassen. Hier erzählen drei Belarussen, warum sie das Risiko eingehen:

Artjom Mingel, 28 Jahre, Arbeiter im Entladebereich beim Düngemittelhersteller Grodno Azot

Als er ans Telefon geht, steht er vor dem Bezirksgericht in Grodno: "Ich warte auf Nachrichten von meinem Kollegen und Freund, er wird immer noch festgehalten", sagt Melnik.

"Wir waren 100 bis 150 Arbeiter, haben uns vor Beginn der Schicht vor dem Eingang unseres Betriebes versammelt. Ich habe so gehofft, dass zahlreiche Kollegen den Streik unterstützen, doch viele haben den Kopf gesenkt, uns nicht in die Augen geschaut, sind vorbei an uns ins Werk gegangen. Was dann passierte, das hatte ich nicht erwartet. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass Omon-Sonderpolizisten und Beamte in Zivil kommen würden, um uns mit Schlagstöcken zur Arbeit zu treiben. Wie kann das sein im 21. Jahrhundert? Als wir uns weigerten, rannten sie hinter uns her, schlugen uns mit ihren Knüppeln auf den Rücken, packten uns, schleppten uns in Gefängnistransporter. Sie nahmen uns auf der Polizeiwache unsere Handys weg. Sie haben große Angst vor Streiks, wollen sie auf keinen Fall zulassen. Der Druck steigt, wir sind ein wichtiger Betrieb, brauchen für die Produktion Gas aus Russland.

Welche Strafe ich nun bekomme, weiß ich nicht. Ich wurde schon einmal wegen der Teilnahme an Protesten zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 80 Euro verurteilt. Ich verdiene etwa 500 Euro im Monat, das ist ein recht gutes Gehalt für Belarus. Viele Kollegen haben Angst um ihre Arbeit und ihre guten Gehälter, deshalb streiken sie nicht, das ist bitter. Wie kann man so weitermachen? Lukaschenko hat uns unsere Stimmen bei der Wahl dreist gestohlen, versucht alle zum Schweigen zu bringen. Ein Kollege schickte mir ein Foto, darauf war ein Kleinbus vor seinem Haus zu sehen, so ein typischer der Sicherheitskräfte. Ich hoffe sehr, dass nicht alles umsonst war, was wir versucht haben, aber große Hoffnung habe ich nicht mehr, ich werde wohl das Land verlassen."

Kurze Zeit später schickt er über Telegram einen Brief, darin steht, dass er und andere Kollegen entlassen wurden.

Wladimir Kajlew, 43 Jahre, Elektronik-Ingenieur beim Energiekonzern Belarusneft (r. im Video)

Er gehört zu einer Gruppe von sechs Kollegen, die als einer der wenigen sich offen Tichanowskajas Aufruf zum Generalstreik anschlossen, dies in einem Video verkündeten und ihre Arbeitsausweise zeigten.

"Bei uns verdienen wir gutes Geld, je nach Position 900 bis 2000 Euro. Aber was ist das schon angesichts der Gesetzlosigkeit in unserem Land, ich kann das nicht länger tolerieren. Hier schießen sie auf Menschen, werfen Granaten. Es ist, als ob ein Krieg ausgebrochen ist.

Die Gewalt bei den Protesten am Sonntag in Minsk war der eine Tropfen zu viel, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es reicht. Deshalb haben wir uns dem Streik angeschlossen. Keine Stunde, nachdem wir das Video veröffentlicht hatten, kamen Juristen und Vertreter der Werksführung aus Gomel zu uns in den Betrieb nach Retschiza, einer Kleinstadt. Sie haben uns gedroht, wir sollten erklären, dass alles ein Scherz sei. Wir haben das abgelehnt, gefordert, was Tichanowskaja verlangt: den Rücktritt Lukaschenkos, Neuwahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Wir sollten dann noch mal in den Betrieb kommen, um unsere Papiere abzuholen, da wartete schon die Polizei auf uns. Deshalb sind wir schnell wieder weg. Viele Kollegen rufen an, sie versuchen nun 'italienisch' - besonders langsam - zu arbeiten. Sie erzählen, dass alle im Betrieb stark psychisch unter Druck gesetzt werden und dass Sicherheitskräfte vor Ort sind. Die Leitung will verhindern, dass andere auch die Arbeit niederlegen. Wir bekommen ständig Anrufe ohne Nummern, das sind die Sicherheitsbehörden. Wir verstecken uns, fahren nicht nach Hause."

Einen Tag später berichtet Kajlew am Telefon, dass er mit seinem mitstreikenden Kollegen Sergej Poljakow, dessen Frau und drei Töchtern schon an der Grenze zu Litauen steht. Sie sind gleich nachts losgefahren. Zuvor waren Sicherheitskräfte gekommen, hatten an den Wohnungstüren der beiden Männer geklopft.

Michail Gromow, 34 Jahre, Elektrogasschweißer beim Minsker Traktorenwerk (MTZ)

"Fast drei Tage brauchten sie, um sich zu beraten, wie sie mich und eine Kollegin entlassen können. Wir gelten als die aktivsten Protestierenden. Irgendwann waren es zehn Juristen, selbst vom Arbeitsministerium kamen welche dazu. Sie sagen, ich sei mehr als drei Stunden dem Arbeitsplatz ferngeblieben, das ist aber nicht wahr: Ich war die ganze Zeit im Werk. Nur haben wir einen Marsch durch den Betrieb veranstaltet, um den Generalstreik zu unterstützen, mit Kollegen gesprochen. Wir waren etwa 300 Frauen und Männer, irgendwann haben sie uns nicht mehr in andere Abteilungen des Werkes gelassen - aus Angst, dass sich auch dort Kollegen uns anschließen. Danach fingen die Drohungen an, alle wurden zu Gesprächen von der Betriebsleitung einbestellt.

Es sind immer noch zu wenige, die protestieren und einen Machtwechsel einfordern. Solange regelmäßig Gehälter ausgezahlt werden, wird es wohl so bleiben. Aber ich setze auf die Zeit, wir haben eine unabhängige Gewerkschaft gegründet. Ich weiß, dass viele Kollegen schon seit Jahren unzufrieden sind mit den Arbeitsbedingungen, langsam lernen sie ihre Rechte kennen. Bei uns bekommen zum Beispiel alle das gleiche Gehalt: egal, ob sie hochspezialisiert in der Produktion oder im Lager arbeiten, etwa 430 Euro. Ich verdiene mehr, mit dem was ich nebenbei nach der Schicht arbeite.

Mein Abteilungsleiter wollte nicht, dass ich gehe. Aber die in der Ideologie-Abteilung haben meine Entlassung veranlasst, die arbeiten mit den Sicherheitsbehörden, auch dem KGB, zusammen. Ich werde gegen meine Kündigung klagen, auch um ein Zeichen zu setzen."

Mitarbeit: Alexander Chernyshev
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