Protestwelle in Belarus Tausende Frauen demonstrieren gegen die Gewalt

Belarussische Frauen, von denen eine ein Plakat mit der Aufschrift "Mein Bruder ist kein Krimineller" hält, halten bei einem Protest weiße Blumensträuße in die Luft
Foto: Uncredited / dpaSeite an Seite stehen die Menschen um den Platz des Sieges im Zentrum von Minsk: Mit der einen Hand halten sie Blumen hoch, mit der anderen formen sie ein V wie Victory, Sieg. Es sind vor allem Frauen, Hunderte allein an diesem Ort in der belarussischen Hauptstadt, viele sind in Weiß gekleidet. Auch an anderen Punkten versammeln sich Hunderte Menschen. Sie demonstrieren gegen die staatliche Gewalt im Land, zeigen sich solidarisch mit den inzwischen 6700 Festgenommenen, von denen viele noch in Haft sitzen, und den über 250 Verletzten. Unterstützt werden die Protestierenden durch lautes Hupen der Autofahrer.
Am Donnerstag protestierten allein in Minsk Tausende Frauen nach Angaben unabhängiger Medien. Hinzu kamen weitere Hunderte in vielen Städten der Regionen wie Grodno, Pinsk, Witebsk oder Mogilew.

Proteste in Belarus
Belarus erlebt am Tag 5 der Proteste eine neue Welle des Aufstands gegen Alexander Lukaschenko, die Stimmung gegen den autoritären Machthaber scheint weiter zu kippen, die Proteste sich auszuweiten. Lukaschenko hatte sich am Sonntag mit über 80 Prozent zum Sieger einer Wahl erklären lassen, die von Manipulationen überschattet ist.
Am Donnerstag gingen nicht nur Tausende Frauen auf die Straße, sie hatten einen Tag zuvor erstmals Menschenketten gebildet, sondern es solidarisierten sich auch Arbeiter wichtiger Staatsbetriebe. Zahlreiche Videos wurden im Internet veröffentlicht, das am Donnerstag weitgehend störungsfrei im Land funktionierte. Bis Mittwoch war das Netz noch weitgehend blockiert gewesen.

Im Zentrum von Minsk säumen Hunderte die Straße
Foto: VASILY FEDOSENKO / REUTERS"Wir wollen die ehrliche Auszählung der Stimmen"
Hunderte Arbeiter des Fahrzeugherstellers BelAZ sind auf Videobildern zu sehen, die rufen: "Verschwinde", gemeint ist Lukaschenko, und "Es lebe Belarus". BelAZ ist einer der wenigen profitablen Staatsbetriebe, er liegt in Schodsina, 60 Kilometer nordöstlich von Minsk. Bei einem Treffen mit dem Bürgermeister rief einer der Mitarbeiter "Wer hat für die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja gestimmt?" Alle hoben die Hände und riefen: "Wir sind 97 Prozent". Der Bürgermeister versprach nach Medienberichten, dass keiner der Arbeiter festgenommen werde.
Am Abend traf er sich mit Bewohnern der Stadt, Hunderte versammelten sich, verlangten Antworten zu den vielen Unstimmigkeiten bei der Wahl und den vielen Festgenommenen. "Antworten Sie konkret", forderten die Menschen. Als er schließlich mit der Ankündigung ging, am nächsten Tag reden zu wollen, riefen die Menschen: "Schande". Zuvor hatten sie gefordert: "Lasst sie frei", womit sie die Festgenommenen meinten.
Auch in mindestens zehn anderen Staatsbetrieben zeigten sich die Mitarbeiter am Donnerstag solidarisch, legten zeitweise die Arbeit nieder, darunter MAZ, der Minsker Hersteller für Lastwagen und Busse. Ein oppositioneller Telegram-Kanal veröffentlichte ein Video aus einer Versammlung des Düngemittelherstellers Grodno Azot. Darin fragt eine Managerin, was die Arbeiter denn wollten. "Wir wollen die ehrliche Auszählung der Stimmen", ruft einer. Als die Managerin daraufhin sagt: "Kollegen, die Wahl ist vorbei", rufen alle: "Nein". Die Mehrheit der Unternehmen in Belarus gehört dem Staat oder wird von ihm kontrolliert.
Kulturschaffende und Ärzte schlossen sich den Protesten an, "Wir sind gegen Gewalt", stand auf einem ihrer Banner. Am Mittwoch war ein Mediziner festgenommen worden, nachdem er bereits mit Kollegen demonstriert hatte. Es gibt Berichte von ersten Polizisten, die gekündigt haben, weil sie das brutale Vorgehen der Sicherheitsbehörden ablehnen, noch sind es wenige.
Die EU-Außenminister wollen sich am Freitag bei einer Videokonferenz zu der Lage in Belarus äußern. Die EU nannte die Wahl "weder frei noch fair".

EU-Botschafter legen Blumen in Minsk nieder, hier ist der französische Vertreter Didier Canesse zu sehen
Foto: SERGEI GAPON / AFPIn Minsk setzten einige Botschafter von EU-Ländern ein wichtiges Zeichen: Sie legten nahe der Metrostation Puschkinskaja Blumen nieder, darunter waren auch ein Vertreter Deutschlands und Frankreichs. An der Metrostation war ein Teilnehmer der Proteste getötet worden. Dabei handelt es sich um einen 34-jährigen Mann aus Minsk. Nach Angaben des Innenministeriums soll er durch die Explosion eines "nicht näher identifizierbaren Sprengsatzes" am Montag so stark verletzt worden sein, dass er starb. Doch an dieser offiziellen Version gibt es Zweifel. Die Sicherheitskräfte setzen immer wieder Blendgranaten und Gummigeschosse gegen Demonstranten ein.
Neue Proteste am Abend - Reaktion des Regimes
Am Abend sammelten sich an der Station Puschkinskaja laut der unabhängigen Internetseite Tut.By wieder Tausende Menschen. Gleich zwei Vertreter des Regimes meldeten sich wenig später zu Wort:
Der Innenminister Jurij Karajew entschuldigte sich für die Verletzungen, die Passanten zufällig zugefügt worden seien. Die Formulierung lässt aber den Spielraum zu, dass die Gewalt, die viele andere traf, durchaus gerechtfertigt gewesen sei.
Natalja Kochanowa, Lukaschenko-Vertraute und Vorsitzende der Nationalversammlung, wandte sich an die Belarussen und sagte: "Wir brauchen keinen Kampf. Wir brauchen keinen Krieg." Der Präsident habe die Meinung der Arbeiter gehört und eine Untersuchung aller Festnahmen angeordnet. Es seien über 1000 Inhaftierte freigelassen worden. Zu den massiven Wahlfälschungen sagte sie jedoch nichts.
Lange hat der SPIEGEL von Weißrussland geschrieben, wenn die Rede war von dem Staat zwischen dem Baltikum und Polen, der Ukraine und Russland. Offiziell nennt sich das Land seit seiner Unabhängigkeit 1991 nach dem Ende der Sowjetunion Republik Belarus, kurz Belarus. "Bela" bedeutet "weiß", "rus" verweist auf jenes früheres osteuropäisches Herrschaftsgebiet, das als Kiewer Rus bekannt war. Das heutige Territorium der Republik Belarus war Teil davon.
Um deutlich zu machen, dass es sich bei Belarus um einen souveränen Staat handelt, der nicht Teil Russlands ist, hat das Auswärtige Amt seit geraumer Zeit begonnen den offiziellen und zeitgemäßen Namen zu verwenden. Der SPIEGEL schließt sich dieser Entwicklung an und wird künftig Belarus statt Weißrussland schreiben, Weißrussinnen und Weißrussen nun als Belarussinnen und Belarussen bezeichnen.