Wie Gefangene in Belarus misshandelt werden "Ihr Ratten, wir werden euch zeigen, für wen man stimmt"

Tausende Menschen wurden nach den Protesten in Belarus weggesperrt. Alesja wartet immer noch auf ihren Mann. Einer seiner ehemaligen Mitgefangenen erzählt von Schlägen und Demütigungen in der Haft.
Von Christina Hebel, Moskau
Ein ehemaliger Gefangener zeigt die Wunden nach seiner Haft in Minsk

Ein ehemaliger Gefangener zeigt die Wunden nach seiner Haft in Minsk

Foto: Sergei Grits / AP

Alesja* sieht noch, wie Beamte einer Omon-Sondereinheit mit Schlagstöcken auf ihren Mann einprügeln. Iwan* liegt mit anderen auf der Straße an einer Brücke in Minsk, hält die Hände über den Kopf verschränkt. Alesja ruft noch: "Das ist mein Mann!", dann schlagen vermummte Sicherheitskräfte auf sie ein, stoßen sie in einen Gefängnistransporter.

Sechs Tage ist das her. Ihren Mann hat Alesja seitdem nicht mehr gesehen. Es war der Abend, an dem sich der autoritäre Machthaber Alexander Lukaschenko erneut zum Sieger der Präsidentschaftswahl ausriefen ließ, einer offensichtlich manipulierten Abstimmung.

Sie und ihr Mann seien mit Freunden nach einer Demonstration im Taxi unterwegs nach Hause gewesen, als sie von Beamten der inneren Sicherheit aus dem Wagen gezerrt wurden, berichtet Alesja. Sie selbst hatte Glück: Sie sei stundenlang im Gefängnistransporter durch die Stadt gefahren und dann freigelassen worden.

Wo ihr Mann jetzt genau ist, kann Alesja nur erahnen. Sie wirkt gefasst am Telefon: "Ich kann jetzt nicht schwach sein, kann einfach nicht mehr weinen", sagt sie. Alesja vermutet ihn im Gefängnis bei Schodina, 60 Kilometer nordöstlich von Minsk. Bekannte haben seinen Namen auf einer der vielen Listen gefunden, die Freiwillige handschriftlich führen und über Telegram-Gruppen teilen.

Frauen weinen vor der Haftanstalt Okrestina-Straße in Minsk

Frauen weinen vor der Haftanstalt Okrestina-Straße in Minsk

Foto: Natalia Fedosenko / action press

Hunderte warten auf ihre Angehörigen

Seit der Nacht steht die 25-Jährige in Schodina vor dem Tor des Gefängnisses. Hunderte seien vor Ort, schreibt sie und schickt Fotos von Menschenmengen. Es sind Familienangehörige und Freunde, sie haben Wasser, Essen und Medikamente dabei, hoffen, ihre Männer und Frauen, Kinder und Freunde endlich in die Arme schließen zu können. Der Innenminister Jurij Karajew hatte am Donnerstagabend verkündet, dass viele der Festgehaltenen freikommen sollen.

Mehr als 6700 Menschen haben die Einsatzkräfte seit Sonntag bei Protesten festgenommen. Verwandte und Freunde wissen oft immer noch nicht, wo die Festgenommenen sind, wie es ihnen geht. Bilder verschiedener TV-Sender zeigten, wie Mütter und Ehefrauen auch vor dem Polizeigebäude in der Okrestina-Straße in Minsk ausharren, viele weinen, halten sich in den Armen.

Angehörige und Rettungssanitäter vor einem Gefängnis, es gab mehr als 6700 Festnahmen

Angehörige und Rettungssanitäter vor einem Gefängnis, es gab mehr als 6700 Festnahmen

Foto: VASILY FEDOSENKO / REUTERS

Auch Alesja wartete zunächst dort, stundenlang. In der Hoffnung, dass jemand ihr sagen würde, ob ihr Mann dort ist.

Alesja rief überall an, bei Polizeistationen, beim Ermittlungskomitee, bei Gerichten, in Krankenhäusern, bei Menschenrechtlern. Keine Spur von Iwan.

Mitgefangener berichtet über Misshandlungen

In der Nacht zu Mittwoch dann endlich ein Anruf. "Ihr Mann sitzt in Okrestina", habe jemand gesagt. Es ist Igor, er saß mit Iwan nicht nur im Gefängnistransporter, sondern auch drei Tage lang in einer Zelle. Der 27-Jährige sei zu fünf Tagen Haft verurteilt worden, es gehe ihm den Umständen nach gut, habe Igor ihr gesagt. Er selbst habe blaue Flecken an Rücken und Beinen, eine gebrochene Rippe.

In Belarus mehren sich erschütternde Berichte von Menschen, die erzählen, wie sie in Gefangenentransportern, auf Polizeistationen und in Haftanstalten gezielt misshandelt werden (Lesen Sie hier auf Deutsch , was der Reporter der russischen Internetseite Znak Nikita Telishenko in Haft erlebte). Der SPIEGEL hat mit fünf Betroffenen gesprochen.

29 Mann seien sie in einer Zelle für eigentlich sechs Inhaftierte gewesen, berichtet der Mitgefangene von Alesjas Mann dem SPIEGEL am Telefon. "Es fühlte sich an, als ob wir ersticken würden." Eine Lüftung habe es nicht gegeben, nur ein kleines Fenster, es sei sehr heiß gewesen.

DER SPIEGEL

"Wenn den Beamten langweilig war, kamen sie rein, schlugen den Erstbesten und gingen wieder", erzählt Igor. Bei der Ankunft hätten die Männer stundenlang im Hof auf Knien auf dem Beton ausharren müssen, die Arme über dem Kopf verschränkt, dabei waren ihr Hände mit Kabelbinder fixiert. "Wer sich irgendwie bewegte, wurde verprügelt." Beamte hätten geschrien: "Du verf…Tier, ruhig liegen! Du verf… Schwuler, ich werde dir beibringen, für wen man abstimmt."

Zu essen habe es nichts gegeben, all die drei Tage lang, sagt Igor. Wasser konnte nur aus einem Hahn in der Zelle getrunken werden. "Doch den haben sie tagsüber auch oft abgestellt. Oder nur heißes Wasser angestellt."

Einer der Mitgefangenen hatte einen Splitter einer Blendgranate im Bein, in der Nebenzelle saß eine schwangere Frau, der es nicht gut ging, sagt Igor. "Sie baten um einen Arzt, doch der kam nie." Der Frau habe man geantwortet: "Das ist normal, wenn man schwanger ist, kotz in die Toilette."

Dimitrij, 35 Jahre, aus Minsk, zeigt seine Verletzungen

Dimitrij, 35 Jahre, aus Minsk, zeigt seine Verletzungen

Foto: privat

Dimitrij wurde am Montag bei Protesten von Gummigeschossen getroffen und festgenommen. Schon da hätten Beamte auf ihn eingeprügelt, sagt der 35-Jährige. Später auf einer Polizeistation in Minsk droschen fünf maskierte Polizisten auf ihn gemeinsam ein, wieder und wieder, "ich dachte, ich überlebe das nicht." Die Beamten seien so brutal gegen ihn und andere Festgenommene vorgegangen, dass er sich kaum noch regen konnte, sagt Dimitrij. Die Verletzten wurden schließlich in ein Krankenhaus gebracht. Sein Körper ist voller Hämatome, wie Fotos zeigen, die er schickt.

Von einer "Hölle" und ständiger Angst spricht Irina Krawez, sie saß drei Tage in Okrestina ein. Die Frauen hätten sich ausziehen müssen und seien dreimal durchsucht worden. Später seien 36 Frauen in eine Zelle für vier Menschen gesteckt worden, sagt sie. Die Wärter hätten die Frauen angeschrien und ihnen gedroht: "Ihr Ratten, Lukaschenko gefällt euch nicht, wir werden euch schon zeigen, für wen man stimmt", so berichtet die 49-Jährige.

"Immer wieder haben die Wärter die Zellentür geöffnet, Eimer mit Wasser auf uns geschüttet und geschrien: 'Willkommen in einem toleranten Land, ihr Tiere.'" Das Wasser habe sich auf dem Boden gesammelt. "Wir standen in der Nässe, es wurde schwül, bei der Hitze fiel es uns noch schwerer zu atmen", sagt Irina Krawez. "Wir hielten uns gegenseitig, damit keine umkippt." Ständig wechselten die Frauen ihre Positionen in der Zelle, damit sie sich reihum kurz hinlegen und ausruhen konnten.

Kein Zugang zu Anwälten - wegen Corona

Ihren Anwalt habe sie nicht sehen dürfen, sagt Irina Krawez. Offizieller Grund: die Corona-Pandemie. Sie will gegen ihre Verurteilung und Behandlung klagen, spricht von Folter: Wie die wilden Tiere hätten sich die Beamten verhalten, auch noch Freude daran gehabt, so ihr Eindruck. Das Innenministerium bestreitet die Misshandlungen von Gefangenen.

Irina Krawez war vor einem Wahllokal in Minsk festgenommen worden. Sie glaubt, die Führung lasse nun Hunderte Inhaftierte frei, weil es einfach keinen Platz mehr in den Haftanstalten gibt und sie ihn für die kommenden Tage brauchen. "Die Menschen werden ja weiter demonstrieren." Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sich als Gewinnerin der Wahl sieht, hat aus ihrem Exil in Litauen die Bürgermeister aufgerufen, Versammlungen am Wochenende zuzulassen. Sie forderte abermals ein Ende der Gewalt in Belarus.

Erste Inhaftierte wurden in der Nacht zum 14. August entlassen

Erste Inhaftierte wurden in der Nacht zum 14. August entlassen

Foto: Nataliya Fedosenko / imago images/ITAR-TASS

"Gezielte Kampagne der Einschüchterung und Demütigung"

Amnesty International spricht inzwischen von systematischer Folter der Festgenommenen bis hin zu Vergewaltigungsdrohungen, über die auch eine junge Frau berichtete . "All die Misshandlungen - das sind keine Einzelfälle besonders brutaler Beamter", sagt Alexander Artemjew, der gerade für die Menschenrechtsorganisation in Belarus war. "Das ist von ganz oben, von der Führung genehmigt, eine gezielte Kampagne der Einschüchterung und Demütigung gegen Demonstranten und ihre Angehörigen." Lukaschenko hatte Protestierende immer wieder verunglimpft, als "Kriminelle" und "Betrunkene mit Drogen" beschimpft.

Alesja findet dieses Menschenbild einfach nur respektlos. "Wir wollen einen Wandel in diesem Land, dafür demonstrieren wir friedlich, ohne Alkohol." Ihr Mann Iwan hat ihr ausrichten lassen, sie solle zu Hause bleiben. Sie geht trotzdem weiter demonstrieren, versammelt sich mit Tausenden Frauen in Minsk. "Wie kann ich daheim bleiben, angesichts dieser Gewalt, dieser Ungerechtigkeit?", fragt sie. "Wir wollen endlich Freiheit."

*Auf Bitten der Angehörigen von Iwan, die Angst um seine Sicherheit haben, wurden alle Namen der Familie anonymisiert, dem SPIEGEL sind sie bekannt.

Update: Am Abend des 14. August wurde Iwan schließlich aus dem Gefängnis Schodina entlassen - sechs Tage, nachdem er festgenommen wurde.

Warum wir statt Weiß­russ­land nun Belarus schreiben

Lange hat der SPIEGEL von Weißrussland geschrieben, wenn die Rede war von dem Staat zwischen dem Baltikum und Polen, der Ukraine und Russland. Offiziell nennt sich das Land seit seiner Unabhängigkeit 1991 nach dem Ende der Sowjetunion Republik Belarus, kurz Belarus. "Bela" bedeutet "weiß", "rus" verweist auf jenes früheres osteuropäisches Herrschaftsgebiet, das als Kiewer Rus bekannt war. Das heutige Territorium der Republik Belarus war Teil davon.

Um deutlich zu machen, dass es sich bei Belarus um einen souveränen Staat handelt, der nicht Teil Russlands ist, hat das Auswärtige Amt seit geraumer Zeit begonnen den offiziellen und zeitgemäßen Namen zu verwenden. Der SPIEGEL schließt sich dieser Entwicklung an und wird künftig Belarus statt Weißrussland schreiben, Weißrussinnen und Weißrussen nun als Belarussinnen und Belarussen bezeichnen.

Mitarbeit: Alexander Chernyshev
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