Armeniens Premier über Bergkarabach-Konflikt "Aserbaidschan entscheidet nicht mehr selbst über sein Schicksal, es ist die Türkei"

Ein alter Konflikt, der immer wieder neu entflammt: Soldaten im Bergkarabach-Gebiet, wo sich Armenien und Aserbaidschan bekämpfen
Foto: Karen Minasian / APSPIEGEL: Herr Premierminister, Sie sind gerade aus Bergkarabach zurückgekehrt. Wie ist die Lage dort? Was haben Sie in Stepanakert gesehen?
Nikol Paschinjan: Ich habe eine Stadt unter Raketenbeschuss gesehen. Die Raketen treffen Wohnhäuser, zivile Infrastruktur. Und ich glaube, die Aserbaidschaner wissen, dass sie Wohnungen, Schulen, Kindergärten beschießen. Aber das stoppt sie nicht. Kein Wunder - es ist eine international anerkannte Tatsache, dass Aserbaidschan diesen Krieg entfesselt hat und dass an der Seite seiner Armee Vertreter terroristischer Gruppen kämpfen, die die Türkei nach Aserbaidschan gebracht hat. So ergibt sich ein vollständiges Bild.
SPIEGEL: Wie fing dieser Krieg für Sie persönlich an? Der Angriff begann am Sonntag, dem 27. September, um acht Uhr früh.
Paschinjan: Ich erhielt einen Anruf vom Präsidenten der Republik Arzach, also Bergkarabach, dass es einen Angriff gegeben habe. Ich rief unseren Generalstabschef an, um die Nachricht zu prüfen. Dann beriefen wir den Sicherheitsrat ein und erklärten Kriegsrecht und die Mobilisierung im Land. Unsere Einschätzung war, dass auch ein Angriff auf die Republik Armenien unmittelbar drohe. Das hat sich bestätigt: In den Tagen darauf wurden Städte und Dörfer in Armenien beschossen, Zivilisten starben. Sogar über der Hauptstadt Jerewan und benachbarten Städten wurden Drohnen gesichtet.
SPIEGEL: Es gab regelmäßig Kämpfe und Scharmützel in Karabach und an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze: 2016, 2018, im Juli 2020. Diesmal sind die Auseinandersetzungen aber so intensiv wie seit Jahrzehnten nicht. Warum?
Paschinjan: Sie haben recht. Unsere Militärexperten sagen, dass es im 21. Jahrhundert weltweit nur wenige Kriege mit so viel Truppen, Technik und Munition gegeben habe wie jetzt in Karabach. Der Grund ist die Beteiligung der Türkei am Krieg.

SPIEGEL-Korrespondent Christian Esch und Premier Paschinjan beim Interview in Jerewan
Foto: Nazik Armenakyan / DER SPIEGELSPIEGEL: Das müssen Sie erklären.
Paschinjan: Die Türkei will im Südkaukasus nach hundert Jahren die Politik des Völkermords an den Armeniern fortsetzen. Sie wissen, dass 1915 im Osmanischen Reich der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts stattfand, der eineinhalb Millionen Armenier das Leben kostete. Die Politik wird aber nicht bloß von Emotionen, vom Hass auf Armenier getrieben. Die Armenier sind im Südkaukasus das einzige Hindernis für eine expansionistische, imperiale Politik der Türkei. Wir müssen das im weiteren Kontext der türkischen Politik im Mittelmeerraum sehen. Und diese Politik wird mit Terroristen und Söldnern umgesetzt. Die Weltgemeinschaft, und besonders Europa, sollte das ernst nehmen. Wenn Europa das nicht tut, dann sollte es die Türkei mit ihrer expansionistischen Politik bald vor Wien erwarten.
SPIEGEL: Sie behaupten faktisch: Es geht der Türkei nicht um Bergkarabach. Es geht ihr um die Schaffung eines Korridors durch armenisches Gebiet.
Paschinjan: Ja. Und wir sehen von türkischer Seite das Ziel, Aserbaidschan zu absorbieren. Aserbaidschan entscheidet nicht mehr selbst über sein Schicksal, es ist die Türkei.
SPIEGEL: Die aserbaidschanische Armee stößt vor allem im Süden, an der Grenze zu Iran, vor. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew verkündet fast täglich, welche Ortschaften man dort befreit habe. Warum überlassen Sie Aserbaidschan diese Dörfer nicht einfach? Die Gegend ist unbewohnt, sie gehört streng genommen gar nicht zu Bergkarabach - sondern zu einer Sicherheitszone, die Armenien vor einigen Jahren um das umstrittene Gebiet herum geschaffen hat.
Paschinjan: Ich glaube, die von Ihnen zitierten Erfolgsmeldungen sind übereilt. Die Truppen von Bergkarabach führen eine Anti-Terror-Operation in der Gegend durch, und wir werden sehen, was deren Ergebnis ist. Die Sicherheitszone wurde seinerzeit nicht willkürlich geschaffen. Es ging darum, die Einwohner von Bergkarabach zu schützen, potenzielle Angreifer von Städten und Dörfern fernzuhalten. Die Kämpfe heute zeigen, dass die existenzielle Bedrohung, die von Aserbaidschan ausgeht, real ist.
SPIEGEL: Haben Sie Russland um militärische Hilfe gebeten?
Paschinjan: Armenien und Russland sind Bündnispartner in Sicherheitsfragen. Es gibt vertragliche Verpflichtungen. Ich bin sicher: Wenn die entsprechende Situation entsteht, wird Russland diesen Verpflichtungen nachkommen.
SPIEGEL: Was heißt das genau? Wenn armenisches Territorium angegriffen wird? Das ist Ihrer Meinung nach ja bereits jetzt der Fall.
Paschinjan: Das ist eine Frage der Einschätzung, welcher Art und wie groß die Bedrohung ist. Dafür gibt es Vertragsmechanismen. Sie wissen, dass Russland einen Militärstützpunkt hat. Russische Grenztruppen bewachen die Grenze zur Türkei und zu Iran.
SPIEGEL: Wladimir Putin hat laut Kreml-Pressedienst noch nicht mal die Präsidenten von Aserbaidschan und der Türkei angerufen.
Paschinjan: Das kann ich nicht kommentieren, aber: Telefonanrufe sind kein Selbstzweck. Der Direktor des russischen Auslandsgeheimdienstes SVR hat offiziell bestätigt, dass auf der Seite der Türkei und Aserbaidschans Vertreter internationaler terroristischer Organisationen gegen Karabach und Armenien kämpfen. Russland ist übrigens nicht das erste Land, das zu diesem Schluss kommt. Frankreich hat das gesagt, Iran auch. In gewissem Sinne ist das hier ein Zivilisationskrieg, und Armenien und Karabach kämpfen an vorderster Front. Wir kämpfen gegen die expansionistische Politik der Türkei und gegen internationale Terroristen.
SPIEGEL: Aserbaidschan hat keine Hoffnung, auf zivilem Weg seine Gebiete zurückzuerhalten. Sehen Sie die Möglichkeit für einen Kompromiss, etwa die Rückgabe von Teilen der Gebiete der Sicherheitszone?
Paschinjan: Zurückgeben müsste das die Regierung von Bergkarabach, nicht ich. Aber wer könnte dann die Sicherheit der Einwohner Bergkarabachs garantieren?