
Bezahlbares Wohnen Darum sind die Mieten in Wien noch so günstig

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Wollten Archäologen in einigen Jahrhunderten einmal die Prachtbauten europäischer Sozialdemokratien zutage fördern – möglich, dass sie im Wohnzimmer von Marika Prajka herauskämen. Die 80-Jährige lebt seit 15 Jahren im Reumannhof, einem denkmalgeschützten Mehrfamilienhaus am Margaretengürtel im 5. Bezirk von Wien. Es ist eine Art sozialpolitisches Weltkulturerbe. So gewöhnlich es im Inneren ausschaut, so prunkvoll ist es von außen.
Schon der Name erinnert an die Entstehung. Unter dem ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Jakob Reumann wurde bezahlbares Wohnen ab 1920 zu einer Kernaufgabe der Stadt – und ist es bis heute geblieben. Sein Nachfolger prägte den Spruch, der noch immer wie ein Versprechen über der Wohnungspolitik dieser Stadt liegt: »Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.«

Marika Prajka, 80, im Wohnzimmer ihrer Wohnung im Gemeindebau
Foto: Mafalda Rakoš / DER SPIEGELFür Marika Prajka ist der Reumannhof ihr Zuhause, kein Denkmal. Für zweieinhalb Zimmer auf 55,5 Quadratmetern zahlt sie hier 442 Euro Miete im Monat. »Es ist eine kleine Wohnung. Aber hier fühle ich mich wohl«, sagt sie. Sie hat ihr Leben lang geschuftet. Um Geld dazuzuverdienen, bügelt die 80-Jährige noch heute einem Diplomaten die Wäsche. Das Geld schickt sie ihren Enkelinnen.
Ihre Freizeit verbringt sie mit ihren Nachbarinnen oft im Hof. Die meisten sind wie sie bereits in Rente. Die Menschen in Prajkas Haus stammen aus Österreich, der Türkei, Usbekistan oder der Slowakei.
Die Wohnungsnot war nach dem Ersten Weltkrieg unvorstellbar. Zehntausende Menschen mussten in Schichten schlafen, Unterkünfte mit Bad waren den meisten Menschen unbekannt. Wohnen war eine politische Frage, die über Arbeit, Gesundheit, ja ein ganzes Leben entscheiden konnte. Mithilfe von eigenen Steuern auf Kutschen, Dienstboten und teure Wohnungen finanzierte die Stadt deshalb innerhalb weniger Jahre den Bau Hunderter sogenannter Gemeindebauten.
Gleichzeitig begann die Stadt in den Krisen der Zwanzigerjahre günstig viel Land zu kaufen – das noch immer genutzt wird. Die Gegend um den Reumannhof galt lange Zeit als »Ringstraße des Proletariats«, nirgendwo sonst innerhalb der Innenstadt leben auch jetzt noch so viele Menschen in einem Gemeindebau. Diese Politik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt, heute erstrecken sich die Gemeindebauten über die ganze Stadt.
Noch immer erinnern große Tafeln daran, wo die Stadt für ihre Bewohner gebaut hat. Die Schilder sind vielleicht die geschickteste Werbung für sozialdemokratische Politik überhaupt. Mit ihnen zeigt die Stadt seit hundert Jahren, was sie geleistet hat – und wer in dieser Zeit regierte. Seit 1920 wurden in Wien 220.000 kommunale Wohnungen errichtet. Rekord in Europa, vielleicht auch insgesamt in der demokratischen Welt. Die eigentliche Leistung, sagen viele Wienerinnen und Wiener, sei aber, dass bis heute kein einziges Haus verkauft wurde.
Mit diesem Schatz an Wohnungen unterscheidet sich Wien inzwischen deutlich von den meisten anderen Großstädten, wo die Mieten für viele Menschen zunehmend unbezahlbar werden. Gleichzeitig gibt es in kaum einer anderen europäischen Stadt so wenig Wohneigentum.

Gemeindebau am Donaukanal im 2. Bezirk von Wien
Foto: Mafalda Rakoš / DER SPIEGELZusätzlich zu den Gemeindebauten gibt es in der österreichischen Hauptstadt ähnlich viele Wohnhäuser, die von Genossenschaften und gemeinnützigen Unternehmen errichtet wurden. Insgesamt leben so mehr als 40 Prozent der Menschen in einer gemeinnützigen Wohnung. Ziel der Miete ist es hier nur, die Baukosten wieder einzunehmen und die Instandhaltung zu ermöglichen. So will es das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz. Ein Modell, das unter anderem in Deutschland abgeschafft wurde und von vielen beneidet wird.
Was können andere Länder davon lernen?
Im Wiener Gemeindebau soll bewusst auch die Mittelschicht wohnen, die Einkommensgrenze liegt für Einzelpersonen bei 49.080 Euro Jahreseinkommen – netto. Mit dieser großzügigen Einkommensregelung will die Stadt den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Soziales Wohnen soll ein Grundrecht für die meisten sein, kein Notnagel für Arme und Ausgegrenzte.
Ein Ergebnis dieses Modells ist, dass es in der ganzen Stadt Armut und Reichtum, Einheimische und Zugezogene gibt, aber praktisch nirgendwo durchgehende Problemviertel, keine Banlieue und kein Getto. Dass es auch heute noch helfen kann, wenn Wohnen ein öffentliches Gut und kein Geschäft ist, das ist die erste, vielleicht offensichtlichste Lehre aus Wien.
Anstatt teurer werdende Mieten zu bezuschussen, wie es in Deutschland längst Standard ist, finanziert Wien bis heute vor allem günstigen Wohnraum – der dauerhaft erhalten bleibt und so auch späteren Generationen hilft, ein bezahlbares Zuhause zu finden. Eine zweite Sache, die man von Wien lernen könnte.
Andererseits ist es längst auch in Wien schwierig, eine neue Wohnung zu finden. Jahrelang schrumpfte die Stadt, nun wächst sie schneller, als gebaut werden kann. Dabei wird der private Wohnungsmarkt immer teurer – und hat den gemeinwohlorientierten bei der Zahl an Neubauten seit 2016 erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg überholt. Zudem gelten hier Regeln, die teils laxer sind als in Deutschland. So dürfen privat vermietete Wohnungen ohne Grund befristet vermietet werden.
»Die Folge ist, dass Menschen noch nicht einmal einen kaputten Wasserhahn melden, um es sich nicht zu verscherzen«, sagt der Wohnexperte Thomas Ritt von der Arbeiterkammer (AK), der gesetzlichen Vertretung für Österreichs Arbeitnehmer. Eine noch unveröffentlichte Studie der TU Wien im Auftrag der AK, die dem SPIEGEL vorab vorliegt, zeigt, dass immer öfter auch gebaut wird, ohne zu vermieten. Im Schnitt sind die Mieten im privaten Bereich bereits doppelt so hoch wie im geförderten. Es sind Entwicklungen, die Wien bis vor Kurzem nicht kannte.
Auch im Gemeindebau gibt es neue Probleme. Ein ganz alltägliches ist der Zusammenhalt. Früher lebten die Hausmeister, in Wien Hausbesorger genannt, direkt im Gebäude. Die Miete kassierten sie zu Monatsbeginn an der Tür. Bei Problemen waren sie schnell zu erreichen. Im Haus gab es auch Einkaufsmöglichkeiten, Tanzsäle und Aufenthaltsräume. Nicht selten hatten die regierenden Sozialdemokraten ihre Büros ebenfalls gleich hier. Die Nähe sorgte für Enge, gegenseitige Kontrolle – aber auch Gemeinsinn. Heute gibt es eine Servicehotline.

Das Treppenhaus lässt erahnen, wie alt der Franz-Domes-Hof inzwischen ist
Foto: Mafalda Rakoš / DER SPIEGELMenschen aus 170 Nationen leben inzwischen in einem Gemeindebau. Bis 2006 blieb Menschen ohne österreichischen Pass der Einzug verwehrt. Seitdem die EU solche Diskriminierungen verbietet, gibt es lange Wartelisten und einen »Wien-Bonus« für Einheimische.
Doch das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Menschen ist über die Jahre eher schwieriger geworden als leichter. Mittlerweile gibt es im Privatfernsehen Realitysendungen aus dem Gemeindebau. Die Häuser werden dort nicht als Errungenschaft präsentiert, sondern als das Zuhause von Fremden und Freaks. Längst leben im Gemeindebau überdurchschnittlich viele FPÖ-Wähler.
Ein noch viel größeres Problem ist jedoch der Sanierungsstau in der Stadt. Seit hundert Jahren hat Wien Wohnungen gebaut und behalten. Gewissermaßen leidet die Stadt nun unter ihrem eigenen Erfolg. Anders als der Reumannhof stammen die meisten Gebäude aus der Nachkriegszeit. Viele wurden nie grundlegend saniert. Bewohner haben Badewannen oder zusätzliche Zimmer auf dem Balkon teils selbst eingebaut. Wie groß der Erneuerungsbedarf wirklich ist, weiß niemand. Schätzungen des österreichischen Rechnungshofs gehen jedoch von mindestens fünf Milliarden Euro aus.

Praterstraße in Wien: »Viele Häuser sind inzwischen in einem schwierigen Zustand. Die aufgeschobenen Sanierungen sind für Wien eine Zeitbombe«
Foto: Mafalda Rakoš / DER SPIEGELSelbst Vertreter der SPÖ, die seit 1919 durchgehend alle demokratischen Wahlen in Wien gewonnen hat, fragen sich, wie lange das noch gutgeht. Ab 2030 gelten EU-weit strengere Energiewerte für Altbauten. Bis dahin müsste die Stadt wohl mehrere Zehntausend Wohnungen energetisch sanieren. Hinter vorgehaltener Hand warnt ein Wohnexperte der Partei: »Viele Häuser sind inzwischen in einem schwierigen Zustand. Die aufgeschobenen Sanierungen sind für Wien eine Zeitbombe.«
Dass die Menschen in Wien auch in Zukunft gut wohnen können, dafür soll Michael Gehbauer sorgen. Der 59-Jährige ist Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung der Privatangestellten, einer gemeinnützigen Wohnbauvereinigung mit 10.000 Wohnungen in Wien. Im 14. Bezirk hat er gerade erst zwei Neubauten eingeweiht, moderne Gebäude in leuchtenden Farben, die nicht nach Sozialbau aussehen und dennoch bezahlbar sind.
Seitdem die Stadt 2004 ihren vorerst letzten Gemeindebau fertigstellte, sind es Gehbauer und seine Kollegen, die Wien mit neuen Sozialwohnungen versorgen, 4000 bis 7000 errichten sie derzeit jährlich. Über ein Tochterunternehmen plant die Stadt inzwischen wieder neue Wohnungen, bislang stehen im »Gemeindebau Neu« aber kaum Häuser. Gehbauer ist überzeugt: »Wir haben die Arbeit der Stadt sehr gut fortgesetzt und können es in manchen Bereichen inzwischen vielleicht auch besser.«
Die Stadt fördert den Bau mit Darlehen und Zuschüssen. Inzwischen wird meist nur noch Baurecht vergeben, das Land bleibt bei der Stadt. Eine Zeit lang war das anders, der Verkauf von Grundstücken versprach hohe Gewinne. Doch inzwischen ist klar: Wer den Boden besitzt, hat die Kontrolle. Das ist die vierte und vielleicht wichtigste Lehre aus Wien.
Im geförderten Wohnbau der Genossenschaften gelten fast die gleichen Regeln wie im Gemeindebau, allerdings müssen sich Mieter an den Baukosten beteiligen. Für eine Zweizimmerwohnung können so 30.000 Euro fällig werden. Geld, das vielen Menschen fehlt, auch in Wien.
Als Lösung gibt es seit einigen Jahren sogenannte Smart-Wohnungen, die kleiner sind, aber modern ausgestattet und nur mit geringem Eigenanteil. Die Kaltmiete beträgt hier pro Quadratmeter 7,50 Euro. Inzwischen schreibt die Stadt vor, dass 50 Prozent der geförderten Wohnungen nach diesem Konzept errichtet werden müssen. Gehbauer verbirgt nicht, dass dies eine Herausforderung war – erst recht bei steigenden Preisen etwa für Baumaterialien. »Inzwischen«, sagt er, »wäre es nicht mehr möglich, dieses Haus zu diesen Konditionen zu errichten.«
Kathrin Gaál weiß von solchen Nöten. Sie ist Vizebürgermeisterin von Wien, zuständig fürs Bauen. Ihre Vorgänger weihten Prachtbauten ein und erinnerten an alte Erfolge, später wurden sie Bürgermeister oder Bundeskanzler. Gaál muss nun dafür kämpfen, dass es weiterhin überhaupt genügend Wohnraum gibt. »Wir werden niemanden allein lassen«, verspricht sie. Vor wenigen Tagen kündigte die Stadt an, steigende Kosten durch höhere Zuschüsse auszugleichen. Reicht das? »Wir werden unser Zusammenleben neu überdenken müssen«, sagt Gaál. Künftig werde es verstärkt Angebote für Wohnungstausch geben und Unterstützung für gemeinschaftliches Wohnen.
Im Neubau von Michael Gehbauer ist ein Teil davon bereits jetzt zu sehen. Ein Geschoss ist für eine Baugruppe engagierter junger Familien reserviert, die ansonsten vermutlich vor der Stadt ein Haus errichtet hätten. Im Neubau dürfen sie nun zentrumsnah ein engeres Miteinander ausprobieren. Dafür übernehmen sie Gemeinschaftsaufgaben für die restlichen Bewohner. Es ist ein Experiment, gewissermaßen ein Neustart der Gemeindebauidee im 21. Jahrhundert.
Marita Prajka will davon nichts wissen. Wenn es geht, sagt sie mit ruhiger Stimme in ihrem Fernsehsessel, werde sie den Rest ihres Lebens im Reumannhof verbringen. »Und irgendwann«, meint sie, »trägt man mich eben zum Gemeindebau raus und jemand Neues zieht ein.«
Mitarbeit: Patrick Stotz, Achim Tack
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
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