Blairs Chefstratege über Boris Johnson Die britische Regierung hat versagt

Ein Gastbeitrag von Alastair Campbell
In der Coronakrise hat Boris Johnson alles falsch gemacht, was man falsch machen kann - sagt einer, der mal als einflussreichster Strippenzieher des Vereinigten Königreichs galt.
Boris Johnson, damals Bürgermeister von London, bei einem Drahtseilakt (Archivbild von 2012)

Boris Johnson, damals Bürgermeister von London, bei einem Drahtseilakt (Archivbild von 2012)

Foto: REUTERS/Rebecca Denton

Ich absolviere derzeit einen Online-Deutschkurs beim Goethe-Institut und habe deshalb während des zehnwöchigen Lockdowns in London mehr deutsche Medien gelesen als sonst.

Auf mein besonderes Interesse stieß dabei ein Artikel im SPIEGEL mit der Überschrift "Die Albtraumtänzer" - erst recht, als ich die Unterzeile las: "Trump, Putin, Johnson, Bolsanaro". Schon da begann ich mich ein wenig dafür zu schämen, Brite zu sein.

Zur Person
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POOL/ Reuters

Alastair Campbell, 63, war von 1997 bis 2003 Chefstratege und Sprecher des damaligen Labour-Premiers Tony Blair. Er gilt als einer der Architekten der bei Wahlen erfolgreichen "New Labour"-Strategie, mit der Blair seine einst linke Partei in die Mitte des politischen Spektrums rückte. Seit seinem Rücktritt betätigt sich Campbell als wortgewaltiger politischer Kommentator und Buchautor. Nach der Europawahl im vergangenen Jahr erklärte er öffentlich, er habe "zum ersten Mal im Leben" die Liberaldemokraten gewählt, um deren EU-freundlichen Kurs zu würdigen. Von der damaligen Labourführung unter Jeremy Corbyn wurde er daraufhin aus der Partei ausgeschlossen.

Der Autor, Sascha Lobo, argumentiert, es sei kein Zufall, dass die USA, Russland, Großbritannien und Brasilien an der Spitze jener Staaten stünden, in der die meisten Menschen an Covid-19 gestorben sind bzw. sich damit infiziert haben. Denn alle vier würden von Männern angeführt, für die die Realität allenfalls eine Wahlmöglichkeit sei. Alle vier unterschätzten oder leugneten die Gefährlichkeit des Virus, setzten vor allem ältere Menschen einem großen Risiko aus, missachteten den Rat von Experten und stellten ihre politischen Interessen über das Wohl der Menschen, denen sie nach eigenem Bekunden doch dienen wollen.

Ein Lügner wie Johnson

Lobo wählte einen bemerkenswerten Ausdruck, um dieses Quartett zu beschreiben – er nennt sie "die vier Anführer der infizierten Welt". Könnte es sein, dass der Populismus und dessen ständiges Wortgeklingel aus Lügen, Prahlereien und Fantastereien langfristig ein gefährlicheres Virus für die Welt bedeuten?

Besonders beschämend war für mich zu lesen, dass ein gewalttätiger Autokrat wie Putin anders vorgehe als "ein demokratisch eingehegter Lügner wie Boris Johnson". Weil er Diktator ist, hat Putin demnach also freiere Hand, während ein "Lügner wie Johnson" bis zu einem gewissen Grad noch demokratischen Spielregeln unterworfen ist. Wollen wir es hoffen.

Aber wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass Johnson nur noch sehr selten in jenem Parlament auftaucht, das er einst in die Zwangspause schickte, nachdem er die Queen belogen hatte; dass er das ganze Land regelmäßig anschwindelt; dass er unverfroren bestreitet, Dinge getan oder gesagt zu haben, die bestens dokumentiert sind; dass er Versprechungen macht, ohne sie je einhalten zu wollen, sei es eine neue Sozialpolitik oder die Veröffentlichung eines Berichts zu russischer Einflussnahme auf unsere Demokratie.

Menschen wie Boris Johnson, die immer schon mit kleinen Patzern davonkamen, wähnen sich offenbar sicher, dass sie auch für große Verfehlungen nicht geradestehen müssen.

Warum die Affäre Cummings so schädlich ist

Niemand in der demokratischen Welt beweist eindrücklicher als Trump, wie schnell demokratische Normen und Institutionen untergraben werden können. Und seine Anhänger zeigen täglich, wie wenig sie sich darum scheren. Aber auch im Vereinigten Königreich kümmert es die meisten Tories anscheinend wenig, dass ihr Anführer weltweit routinemäßig als Lügner bezeichnet wird. Lobo hält Johnson für noch nicht ganz so schlimm wie Trump oder Putin. Aber die beiden sind auch schon länger im Geschäft. Je mehr sie sich ungestraft leisten können, desto unverschämter werden sie.

Deshalb ist die Geschichte von Dominic Cummings , dem leitenden Berater des Premierministers, so schädlich für Johnson, für Großbritannien und für die Versuche, die Covidkrise in den Griff zu bekommen.

Es ist nicht das erste Mal in unserer Geschichte, dass ein Höfling den König in den Schatten stellt. Im berühmtesten Fall handelte es sich um einen echten König, Heinrich den Achten, der es wie Johnson darauf anlegte, das Land von einer großen internationalen Organisation zu lösen. Für den echten König ging es darum, die katholische Kirche zu verlassen, damit er nach Herzenslust Frauen nachstellen und heiraten konnte.

Johnsons Zustimmungswerte sinken

Für den Schwerenöter und mehrfach verheirateten Mister Johnson ging es darum, die Europäische Union zu verlassen, um seiner konservativen Partei zu zeigen, was für ein Siegertyp er ist – und darum, sich so dem Status eines "Königs der Welt"  zu nähern, den er schon als Kind für sich reklamierte. Was Thomas Cromwell für Heinrich VIII. war, ist Cummings für Johnson.

Ich sollte hinzufügen, dass auch ich allzu oft beschuldigt wurde, mächtiger als mein Chef zu sein, als ich für den ehemaligen Premierminister Tony Blair arbeitete. Das stimmte nicht, aber es hat mir die Arbeit erschwert und war einer der Gründe, warum ich 2003 zurücktrat.

Johnsons Chefstratege Cummings: 400 Kilometer durch ganz England

Johnsons Chefstratege Cummings: 400 Kilometer durch ganz England

Foto: HENRY NICHOLLS/ REUTERS

Als die britische Autorin Hilary Mantel den ersten Teil ihrer Cromwell-Trilogie "Wolf Hall" veröffentlichte, sagte sie sogar, dass der heutige Leser sich den historischen Charakter als "Alastair Campbell mit einer Axt" vorstellen möge.

Ich werde hier nicht im Einzelnen auf die vielen widersprüchlichen Ausreden eingehen, mit denen Cummings, seine Frau und sein Chef begründet haben, warum jener mehr als 400 Kilometer durch England fuhr, um auf dem Landsitz seines Vaters zu verweilen. Es reicht festzustellen, dass die Ausflüchte bei gesetzestreuen Bürgern nicht ankamen und Johnsons Zustimmungswerte seither absacken.

Die Briten hassen Heuchelei

Die Briten sind recht nachsichtig. Sie hassen jedoch Heuchelei, und sie mögen es nicht, für dumm verkauft zu werden. Johnson hat, unterstützt von Cummings, das Brexit-Referendum, den Parteivorsitz und die Parlamentswahl gewonnen, indem er sich als Kämpfer für das Volk gegen eine eingebildete Elite ausgab. Wenn man bedenkt, aus welch privilegierten Verhältnissen beide stammen, war das immer schon ein Trump-artiger Schwindel, aber es hat funktioniert. Jetzt jedoch ist diese "Das Volk gegen die Elite"-Masche bloßgestellt worden, sie wird nie wieder verfangen.

Die Öffentlichkeit würde das Ganze womöglich eher verzeihen, wenn sie das Gefühl hätte, dass die Regierung die Krise im Griff hat. Aber wie könnte sie? Ältere Covid-Patienten wurden ungetestet aus Krankenhäusern in Pflegeheime verlegt. Es gab Pannen mit Schutzausrüstungen, der Lockdown wurde Wochen zu spät verhängt, jetzt wurde ein Test-, Track- und Trace-System lanciert, von dem selbst die Verantwortlichen sagen, dass es noch nicht funktioniert.

Johnson spielte dasselbe Wir-sind-besser-als-die-anderen-Spiel wie Trump und hielt die Bedrohung für übertrieben. Noch an dem Tag, als sich seine wissenschaftlichen Berater unter anderem für ein Verbot des Händeschüttelns aussprachen, prahlte er damit, genau das mit infizierten Patienten getan zu haben.

Platz eins auf einer beschämenden Rangliste

Inzwischen ist das Land, das Johnson angeblich führt, wirklich auf Platz eins einer globalen Rangliste gerückt: jene, die die Zahl der Toten pro einer Million Bürger bemisst. Wir haben gut 60.000 mehr Todesfälle als in anderen Jahren zur selben Zeit. Als Fußballfanatiker habe ich verfolgt, wie die Zahl so groß wurde, dass sie die Kapazität unserer Premier-League-Stadien überschritt. Jetzt wäre nur noch Old Trafford, die Heimat von Manchester United, groß genug, um die britischen Covid-Toten darin unterzubringen.

"Unser Staatschef hat sich ebenfalls auf eine Sache konzentriert: nicht das Land zu retten, sondern seinen Berater."

Weder Johnson noch Cummings noch ein anderer aus ihrer Riege hat Reue gezeigt, Fehler eingeräumt oder sich entschuldigt. Der Regierungschef hat sogar im Trump-Stil seinen "offensichtlichen Erfolg" gerühmt, wir hätten "Tragödien vermieden, die anderen Ländern widerfahren sind". Im Fall Cummings bestehen Johnson und sein Kabinett darauf, dass der Berater nichts falsch gemacht habe, obwohl die Polizei das etwas anders sieht.

Den wissenschaftlichen und medizinischen Chefberatern der Regierung wurde untersagt, sich dazu zu äußern, ob Cummings gegen Richtlinien verstoßen und so womöglich Nachahmer ermuntert habe. Johnson zeigte sich hier als ärmlicher Orbán-Verschnitt, als Mini-Trump. Es ist beschämend für Großbritannien.

Merkel und Macron hatten den richtigen Fokus

Deutschland, Frankreich, Australien, Kanada, Neuseeland und so viele andere Staaten sind inzwischen auf dem Weg zurück in die Normalität. Bei uns jubelten Johnsons Unterstützer in der rechten Presse, als es hieß, dass eine vierköpfige Familie von dieser Woche an zwei Gäste in ihren Garten einladen darf, vorausgesetzt, sie halten zwei Meter Abstand und berühren nicht zu viele Dinge. Dann verkündete die Premier League, dass es ab Mitte Juni Geisterspiele geben könnte – und wieder einmal fragte sich England, warum es im Fußball immer hinter den Deutschen zurückliegt.

Eine Krise wie diese erfordert totale Fokussiertheit von Staatenlenkern, Merkel und Macron haben das unter unglaublich schwierigen Umständen demonstriert. Unser Staatschef hat sich ebenfalls voll auf eine Sache konzentriert: nicht das Land zu retten, sondern Cummings. Jetzt haben die Briten erkannt, wie Johnson und seine Clique wirklich sind.

In einem Interview für die BBC bin ich diese Woche gefragt worden: "Kritik zu üben, ist leicht, aber was wäre die korrekte Strategie gewesen?" Ich erwähnte daraufhin zehn Punkte:

1.      Eine Strategie entwickeln, durchführen und überzeugend kommunizieren.

2.      Klare, konsequente Führerschaft zeigen.

3.      Vom Regierungszentrum aus organisieren.

4.      Alles mobilisieren, was man hat.

5.      Expertenrat weise nutzen.

6.      Ein starkes Team aufstellen.

7.      Keine Zeit verschenken.

8.      Die Öffentlichkeit einbeziehen.

9.      Echtes Mitgefühl für die von der Krise Betroffenen zeigen.

10.    Hoffnung wecken, aber keine falsche Hoffnung.

Britanniens Zukunft ist ungeklärt

Gemessen daran kommt die britische Regierung auf null Punkte. Sie hat in allen zehn Punkten versagt. Die Regierung Merkel kommt dicht an die volle Punktzahl. Die Bundeskanzlerin war stets sichtbar, klar und transparent, sie war bereit, harte Wahrheiten auszusprechen, ihre Beweggründe zu erklären, und die Menschen und Landesregierungen so gut wie möglich mitzunehmen. Deutschland kann nun wieder zu besseren Ufern aufbrechen.

Wie es in Großbritannien enden wird, bleibt dagegen ein Rätsel. Hätte ich einer britischen Regierung jemals ähnlichen Schaden zugefügt wie Dominic Cummings, ich wäre ohne Aufforderung zurückgetreten.

Cromwell übrigens wurde seinerzeit auf Geheiß des Königs geköpft.

Übersetzung: Jörg Schindler

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