Geheimes Buch des brasilianischen Militärs Bolsonaros Bibel

Brasiliens Präsident Bolsonaro und seine Anhänger verfolgen alle Andersdenkenden. Sie lassen sich dabei von einem Buch leiten, das die Militärdiktatur verherrlicht. Was steht drin in "Orvil"?
Eine Analyse von Jens Glüsing, Rio de Janeiro
Militärfan Bolsonaro (im Armeehauptquartier in Brasilia im August 2019): Wenn man den Feind nicht vernichten kann, muss man seine Institutionen zerstören

Militärfan Bolsonaro (im Armeehauptquartier in Brasilia im August 2019): Wenn man den Feind nicht vernichten kann, muss man seine Institutionen zerstören

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Eraldo Peres/ AP

Das Buch ist fast tausend Seiten dick. Es zitiert von Marx über Marcuse bis zu Carlos Marighella, dem brasilianischen Erfinder des Konzepts der Stadtguerilla, zahlreiche Theoretiker der kommunistischen Revolution. Die Aktionen brasilianischer Linker, die unter der Militärdiktatur in den Untergrund gegangen waren, werden ausführlich dokumentiert und mit Fotos illustriert.

"Orvil" heißt das Werk, das unter Brasiliens Rechten jahrelang wie ein verbotener Schatz gehandelt wurde. Der Titel stammt von "livro", dem portugiesischen Wort für "Buch", rückwärts gelesen. In Auftrag gegeben wurde es 1986 von General Leônidas Pires Gonçalves, Heeresminister unter Präsident José Sarney, dem ersten zivilen Staatsoberhaupt nach dem Ende der Militärdiktatur 1985. Doch politische Bedeutung erlangte es erst unter dem rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro.

"Wer den Bolsonarismus verstehen will, muss 'Orvil' lesen."

João Cezar de Castro Rocha, Literaturwissenschaftler und Historiker

"Orvil" gilt unter Experten als die Bibel des Bolsonarismus. "Bolsonaro und seine Anhänger beziehen ihre Weltanschauung aus 'Orvil'", sagt der Literaturwissenschaftler und Historiker João Cezar de Castro Rocha, der das Werk erforscht hat und ein Buch über das Thema schreibt. "Wer den Bolsonarismus verstehen will, muss 'Orvil' lesen."

Eine Faksimile-Version kursiert im Netz

Eine Gruppe von Offizieren, die Zugang zu den Archiven des militärischen Geheimdiensts hatte, verfasste das Werk zwischen 1986 und 1989. Doch Präsident Sarney verhinderte seine Veröffentlichung - es hätte aus seiner Sicht die Aussöhnung der Brasilianer gefährdet. Jahrelang zirkulierten geheime Fotokopien in Militärkreisen. Erst 2013 veröffentlichte ein kleiner Verlag das Werk. Heute bieten rechtsradikale Websites das Buch in einer Faksimile-Version zum Herunterladen an.

"Orvil" war die Antwort der Militärs auf den 1985 erschienenen Report "Brasil: Nunca Mais" (auf Deutsch: "Brasilien – Nie wieder"), der die Gräuel der Militärdiktatur schildert. Dieses Buch war während der Diktatur im Untergrund entstanden und wurde von Dom Evaristo Arns betreut, dem Erzbischof von São Paulo.

"'Nunca Mais' dokumentierte anhand von Unterlagen der Militärgerichte, wie Regimegegner gefoltert und ermordet wurden", sagt Castro Rocha. "Für die Militärs war es ein Schlag in die Magengrube".

Die Informationen konnten zwar nicht zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen herangezogen werden, schließlich hatten sich die Militärs als Voraussetzung für die demokratische Öffnung eine Amnestie für alle während ihrer Herrschaft begangenen politischen Verbrechen ausbedungen. "Aber es stellte eine moralische Verurteilung dar", so Castro Rocha.

Als Reaktion gaben die Militärs "Orvil" in Auftrag. Das Buch trägt den Untertitel "Versuch einer Machtergreifung" und schildert, wie Brasiliens Linke seit der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahr 1922 dreimal vergeblich versucht hat, mithilfe des bewaffneten Kampfs an die Macht zu gelangen - die letzten beiden Versuche, so die These, vereitelten die Streitkräfte, die sich 1964 an die Macht geputscht hatten.

Nachdem der bewaffnete Kampf gescheitert war, so "Orvil", änderten die Kommunisten ab 1974 ihre Strategie: Seither versuchten sie, alle Institutionen zu unterwandern, bis ihnen der Staat wie eine reife Frucht in die Hände fällt.

Experte Castro Rocha sagt: "Aus Sicht der Autoren von 'Orvil' ist seit 1922 kein einziger Tag vergangen, an dem die Kommunistische Partei mit ihren Agenten nicht versucht hat, in Brasilien ein linkes Regime zu errichten, eine Art tropisches China".

Die Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme ist auch die Triebfeder für den "Kulturkrieg", wie Bolsonaro und seine Anhänger ihren Kreuzzug gegen alle Menschen und Institutionen nennen, die sie als Maulwürfe des Kommunismus verdächtigen.

Bolsonaros ideologischer Guru lebt in den USA

Ihr oberster Prophet ist der selbsternannte "Philosoph" Olavo de Carvalho, der in den USA lebt und von Bolsonaro als ideologischer Guru verehrt wird.  "Carvalho hat das Erzählmuster von 'Orvil' verfeinert", sagt Castro Rocha. "Er hat dem Bolsonarismus eine Vision und Sprache verliehen".

Die zentrale These, die sich durch "Orvil" zieht und die auch Carvalho propagiert, stammt aus dem Kalten Krieg der Sechziger- und Siebzigerjahre - es ist die berüchtigte "Doktrin der Nationalen Sicherheit", die damals das Denken und Handeln vieler Militärdiktaturen in Lateinamerika bestimmte.

Diese Doktrin ging davon aus, dass der äußere Feind der Nation - die Kommunistische Internationale in Gestalt von Kuba, der Sowjetunion oder China - sich interner Helfershelfer bedient, die die Stabilität des Staates bedrohen. Diese müssten deshalb ausgelöscht werden.

"Mit dieser Doktrin versuchten die Streitkräfte, eine legale Basis für die Vernichtung der Linken zu konstruieren", sagt Castro Rocha. Unter Bolsonaro hätten sich die "digitalen Milizen" der Bolsonaro-Anhänger auf WhatsApp, Facebook und Twitter diese Doktrin zu eigen gemacht: "Sie wollen jeden auslöschen, der nicht für Bolsonaro ist."

Dieses Freund-Feind-Denken erklärt, warum ein fanatischer Bolsonaro-Anhänger vor zwei Wochen triumphierend ausrief: "Die Linke hat verloren!", nachdem er eine Reihe von Kreuzen umgestoßen hatte, die eine NGO zum Gedenken an die Opfer der Corona-Pandemie am Strand von Copacabana aufgestellt hatte.

"Der Bolsonarismus ist die erste politische Bewegung in Brasilien, die von Hass angetrieben wird", sagt Castro Rocha. "Sie muss daher ständig neue Feinde erfinden". Das können im Weltbild der Bolsonaro-Jünger auch Krankenschwestern oder Ärzte sein, die bei der Corona-Bekämpfung von der Regierungslinie abweichen.

Die Justiz hat den Präsidenten und seine Söhne im Visier

Weil die physische Vernichtung des Feindes aber in der Demokratie nicht möglich sei, habe sich der Bolsonarismus die Zerstörung der Institutionen zum Ziel gesetzt, so Castro Rocha: "Diese Bewegung hat keinen Regierungsplan, sie will nur zerstören."

Ihre Feinde verortet sie vor allem in der Regierungsbürokratie und der Justiz. Bolsonaro hat deshalb Schlüsselposten im Bildungs-, Familien- und Außenministerium mit Gefolgsleuten von Olavo de Carvalho besetzt.

"Diese Bewegung hat keinen Regierungsplan, sie will nur zerstören"

Castro Rocha

Einer seiner wichtigsten Ideologen ist ihm allerdings jüngst abhandengekommen: Bildungsminister Abraham Weintraub wurde vergangene Woche von Bolsonaro in Rekordzeit auf einen Posten bei der Weltbank in Washington weggelobt, weil die brasilianische Justiz ihm auf den Fersen war - er hatte in einer Kabinettssitzung schwadroniert, wie man die Obersten Bundesrichter hinter Gittern bringen könnte.

Die Justiz hat auch den Präsidenten und seine Söhne im Visier. Deshalb verzichtet Bolsonaro seit einigen Tagen auf öffentliche Attacken gegen die Demokratie und ihre Institutionen, so hofft er seine Gegner zu beschwichtigen.

Doch Castro Rocha glaubt, dass der Schmusekurs nur kurze Zeit anhalten wird. "Bolsonaro sitzt in der Falle", sagt er. "Wenn er den Kulturkrieg aufgibt, verliert er seine Anhänger. Macht er aber weiter, wird seine Regierung scheitern." Aus diesem Dilemma gebe es keinen friedlichen Ausweg: "Es besteht die reale Gefahr eines Putschversuchs."

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