Aushöhlung der brasilianischen Demokratie Der rechte Chávez

Hugo Chávez wetterte gegen die USA, Jair Bolsonaro gegen Kommunisten. Doch bei den autoritären Ambitionen des brasilianischen Präsidenten gibt es erstaunliche Parallelen zu Venezuelas Ex-Machthaber.
Von Jens Glüsing, Rio de Janeiro
Bolsonaro, Militärs (bei der Vereidigung junger Fallschirmspringer auf einer Militärbasis in Rio de Janeiro im November 2018): "Wir müssen das Volk bewaffnen"

Bolsonaro, Militärs (bei der Vereidigung junger Fallschirmspringer auf einer Militärbasis in Rio de Janeiro im November 2018): "Wir müssen das Volk bewaffnen"

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FERNANDO SOUZA/ AFP

Jair Bolsonaro war voll des Lobes: Hugo Chávez sei "eine Hoffnung für Lateinamerika", schwärmte er 1999 in einem Interview der Zeitung "Estado de São Paulo", nachdem Chávez in Venezuela Präsident geworden war. "Ich würde mich freuen, wenn seine Philosophie nach Brasilien käme."

21 Jahre später könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Viele Historiker vergleichen die Entwicklung in Brasilien mit dem Niedergang der Demokratie in Venezuela.

Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hätten viele Menschen gefürchtet, dass Brasilien sich unter der linken Arbeiterpartei PT "in ein neues Venezuela verwandelt", schrieb der Kolumnist Elio Gáspari, Autor eines Standardwerks über die brasilianische Militärdiktatur. "Dabei ist das Unvorhergesehene geschehen und das Risiko einer Venezolanisierung unter Bolsonaro entstanden."

Bolsonaro hat zwar nicht Chávez' Philosophie vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" übernommen, im Gegenteil: Der Präsident gefällt sich in der Rolle des Kommunistenfressers. Doch die Art, wie er regiert und das Land spaltet, weist verblüffende Parallelen zum Herrschaftsmodell des 2013 verstorbenen Chávez auf.

Verachtung für die Demokratie

Beide waren beim Militär, ihre Sozialisierung und ihr Denken wurden dort geprägt . Sie kamen zwar auf demokratische Weise an die Macht, versteckten ihre Verachtung für die herrschende Demokratie aber nie. Bolsonaro hält die politische Klasse für korrupt und reformunfähig - so dachten in den Neunzigerjahren auch die Chávez-Anhänger in Venezuela.  

Chávez zettelte zwei Putschversuche an, bevor er gewählt wurde. Bolsonaro bewundert die Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 in Brasilien herrschte. Als Präsident ging er mehrmals zu Demonstrationen, bei denen seine Anhänger eine Intervention der Streitkräfte forderten.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez (im Jahr 2010 bei einer militärischen Zeremonie in Barquisimeto): Anschein einer demokratischen Fassade

Venezuelas Präsident Hugo Chávez (im Jahr 2010 bei einer militärischen Zeremonie in Barquisimeto): Anschein einer demokratischen Fassade

Foto: Daniel Karmann/ picture alliance / dpa

Bolsonaro verfolgt eine Strategie, die auch Chávez dienlich war: Posten, auf die er Einfluss hat, besetzt er mit ideologiefesten Anhängern und höhlt so die Institutionen aus. Der Vorsitzende des Obersten Bundesgerichts warnte jüngst davor, Brasiliens Demokratie könnte schleichend zugrunde gehen wie die Weimarer Republik.

In diesem Szenario spielen die Militärs eine entscheidende Rolle. Bolsonaro hat ähnlich wie Chávez die meisten Schlüsselpositionen im Regierungsapparat mit Soldaten besetzt. Dennoch bezweifelt er offenbar, dass die Streitkräfte ihm hundertprozentig ergeben sind. Er erwägt daher, so wie Chávez Milizen aufzustellen. Man müsse "das Volk bewaffnen", verkündete Bolsonaro jüngst in einer Kabinettssitzung. Er will die Waffengesetze lockern, um Zivilisten den Zugang zu Feuerwaffen zu erleichtern.

Die Rolle der Milizen

Viele Armenviertel in Rio de Janeiro werden bereits von Milizen kontrolliert, die Bolsonaro unterstützen. Radikale Anhänger, die vor den Ministerien in Brasília kampieren, haben zugegeben, dass sie bewaffnet sind - angeblich zur Selbstverteidigung.

Wie Chávez braucht Bolsonaro den permanenten Konflikt, um seine Anhänger zu mobilisieren. In Venezuela sind die USA das Feindbild; Bolsonaro baut dagegen auf einen tief verwurzelten Antikommunismus. Seinen Gegnern wirft er ideologische Verblendung vor. Doch er ist es, der alles ideologisiert – bis hin zum Coronavirus. Bolsonaros Außenminister verteufelte es als Schöpfung chinesischer Kommunisten. Inzwischen ist Brasilien von der Pandemie stärker betroffen als fast jedes andere Land.

Die Frage ist, ob es Bolsonaro wie Chávez gelingt, den Anschein einer demokratischen Fassade zu wahren, während er hinter den Kulissen ein autokratisches Herrschaftssystem errichtet. Chávez gewann in 14 Jahren an der Macht insgesamt 14 Wahlen, Referenden und andere wichtige Abstimmungen. Er war immens populär, Millionen Menschen ließen sich von seinem Charisma blenden.

Die Kraft von Bolsonaros Ausstrahlung ist dagegen begrenzt. Seine treuen Anhänger machen etwa ein Drittel der brasilianischen Wählerschaft aus. Für eine geplante Wiederwahl in zwei Jahren reicht das nicht.

Bolsonaro umwirbt die Armen mit Sozialprogrammen

Deshalb versucht Bolsonaro, die Armen mit Hilfe von Sozialprogrammen für sich zu gewinnen - so wie einst Chávez. Die vom ehemaligen brasilianischen Linkspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva eingeführte Sozialhilfe "Bolsa Familia" will er umbenennen und erweitern. Auch Hilfszahlungen für die Betroffenen der Coronakrise sollen ihm Stimmen bringen.

Widerstand der Opposition muss er nicht befürchten, seine Gegner sind mit sich selbst beschäftigt. Lula, die wichtigste Figur der Opposition , weigert sich, einem parteienübergreifenden Bündnis gegen Bolsonaro beizutreten, weil ihm auch Politiker angehören, die Bolsonaro zur Wahl verholfen hatten oder sogar in dessen Kabinett saßen.

Auch die Zivilgesellschaft ist zersplittert und uneins. Wegen der Infektionsgefahr trauen sich viele Gegner Bolsonaros nicht auf die Straße. Hinzu kommt, dass Brasilien mit Brasília, São Paulo und Rio de Janeiro über drei politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentren verfügt. Das erschwert eine einheitliche Protestbewegung.

Zudem ist Bolsonaro in der jüngeren Generation längst nicht so verhasst wie oft angenommen. Der primitive Macho-Kult der Bolsonaro-Bewegung übt vor allem auf junge Männer eine große Anziehungskraft aus. "Für viele junge Brasilianer stellt die Rechte eine 'coole' Gegenkultur zum linken Brasilien ihrer Eltern dar", twitterte der Chefredakteur der Zeitschrift "Americas Quarterly", Brian Winter.

Die Justiz, das letzte Bollwerk

Das ist auch ein Grund dafür, dass sich das Parlament und die meisten Gouverneure nicht gegen Bolsonaro auflehnen. Der Präsident hat ein Bündnis mit mehreren Zentrumsparteien geschlossen, als Gegenleistung hat er deren Abgeordnete mit Posten und Pfründen bedacht. Ein Amtsenthebungsverfahren wird damit immer unwahrscheinlicher.

Als einzige Institution leistet die Justiz Widerstand gegen Bolsonaros autoritäre Ambitionen. Das Oberste Bundesgericht, das über die Verfassung wacht, ist das wichtigste Bollwerk gegen den Niedergang der Demokratie. Aber wie lange noch? Auch in Venezuela hatten die Obersten Richter anfangs Chávez in die Schranken gewiesen, daraufhin besetzte er den Obersten Gerichtshof mit Vasallen.

Bolsonaro macht das genauso. Als das Amt des Generalstaatsanwalts frei wurde, setzte er einen regierungstreuen Juristen auf den Posten. Wenn Ende des Jahres der Dekan des Obersten Bundesgerichts in Ruhestand geht, will der Präsident einen Evangelikalen aus den Reihen seiner Anhänger zum Nachfolger ernennen. Dann wird auch diese Bastion fallen.

Explosives Gemisch aus Wirtschaftskrise und politischer Instabilität

Ist der Niedergang der brasilianischen Demokratie also nicht mehr aufzuhalten, so wie in Venezuela? Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Bolsonaro betreibt eine ultraliberale Wirtschaftspolitik, deshalb haben ihn viele Unternehmer und die Finanzwelt unterstützt. Die brasilianische  Wirtschaft ist weitaus größer, komplexer und diversifizierter als die venezolanische. Ein Absturz wie in Venezuela sei daher ausgeschlossen, glauben viele Wirtschaftsexperten.

Wirtschaftsminister Paulo Guedes gilt als Garant für einen neoliberalen Wirtschaftskurs. Doch die Coronakrise hat seine Reformpläne durchkreuzt, Guedes musste aus der Staatskasse milliardenteure Hilfspakete finanzieren. Wenn er scheitert, wird Bolsonaro nicht zögern, ihn zu entlassen.

Die Warnzeichen häufen sich: Kapitalflucht und Währungsverfall haben sich beschleunigt, immer mehr Anleger ziehen ihr Geld aus Brasilien ab. Das explosive Gemisch aus Wirtschaftskrise und politischer Instabilität schreckt sie ab.  

Bolsonaro könnte davon profitieren, wenn das Land ins Chaos abgleitet; viele werfen ihm sogar vor, dass er damit liebäugelt. Eine umstrittene Klausel, die auf Betreiben des Militärs in die Verfassung aufgenommen wurde, sieht vor, dass die Streitkräfte auf Anordnung des Präsidenten intervenieren dürfen, um "Recht und Ordnung" wiederherzustellen.

Für Bolsonaro und seine Anhänger wäre damit die Errichtung einer Diktatur legal gerechtfertigt.

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