Deutscher Ex-Botschafter über die Briten "Wir sollten nicht zu selbstgefällig auf Großbritannien blicken"

Union Jack vor Big Ben
Foto: Alberto Pezzali/ picture alliance/dpaSPIEGEL: Herr Wittig, sind Sie erleichtert, dass Sie die Chaos-Insel nach zwei Jahren wieder verlassen durften?
Wittig: Ich habe als Diplomat eine ungeheuer aufregende Zeit erlebt, eine spannendere hätte ich mir nicht aussuchen können. Daher bin ich mit bittersüßen Gefühlen nach Berlin zurückgegangen.
SPIEGEL: Aufregend auch in einem enervierenden Sinn?
Wittig: Na ja, ich habe ein Land in einem permanenten Erregungszustand erlebt. Die Abfolge der Ereignisse war außergewöhnlich: Brexit-Verhandlungen, No-Deal-Szenario, Verschiebung des Austritts, Sturz Theresa Mays, Kampf um die Nachfolge, eine veritable Verfassungskrise, der Wahlsieg Johnsons , der Brexit-Vollzug und dann noch Corona. Es gab im Grunde nie einen Zustand der Normalität.
SPIEGEL: Ist es Ihnen im Kontakt mit den entscheidenden Personen manchmal schwergefallen, diplomatisch zu bleiben?
Wittig: Ich habe die politischen Akteure eigentlich immer in zivilisierter Weise erlebt. Es gibt zwar auch in Großbritannien Wutbürger, aber im Londoner politischen Biotop waren auch die härtesten Brexiteers immer freundlich zu mir als Deutschem. Mir ist nirgendwo Feindseligkeit entgegengeschlagen. Vielleicht erlaubt das die feine britische Art auch nicht. Es dauert eine Weile, bis man verstanden hat, wie in Großbritannien Politik gemacht wird.
SPIEGEL: Ist die so viel anders als anderswo?
Wittig: In Großbritannien kennt die Politik aus unserer Sicht noch viele archaische Elemente. Der Verfassungshistoriker Walter Bagehot nannte das die "dignified parts of the constitution": die Monarchie, die ehrwürdigen Gebräuche - und das Debattenparlament. Großbritannien ist ein Land der Redner, und das hat immer ein spielerisches Element. Das hat wenig zu tun mit der Politik und dem Parlament in Deutschland, wo es sehr viel technokratischer, ernster und oft auch etwas langweiliger zugeht. Man konnte da gelegentlich überraschende Erkenntnisse gewinnen.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Wittig: Nehmen Sie Brexit-Führungsfiguren wie Jacob Rees-Mogg oder Michael Gove. Die haben im Parlament oft flammende Reden gehalten wie in der Oxford Debating Society. Bevor man sie persönlich getroffen hat, denkt man, oh Gott, das sind ja wirklich extreme Auffassungen. Aber wenn Sie diesen Menschen dann gegenübersitzen, stellt sich heraus, die sind ganz vernünftig, hören zu und erscheinen in einem ganz anderen Kleide. Das Sportliche dieser Auseinandersetzung muss man erst einmal verstehen. Aber es ist natürlich auch problematisch, dass die britische Politik immer nur in Siegern und Verlierern denkt und keine Kompromisskultur kennt – auch das ein großer Unterschied zu Deutschland.
SPIEGEL: Die Höflichkeit fand in der Brexit-Debatte ja oft ihre Grenzen. Im Parlament gab es wütende Scharmützel , bisweilen menschenverachtende Entgleisungen. Das wirkte nicht immer sehr britisch.
Wittig: Da stimme ich Ihnen zu. Durch den Brexit ist die britische Politik seit 2016 im Kampagnenmodus. Das hat der Politik in der Tat einen ideologischen Charakter gegeben, eine Zuspitzung, die es vorher nicht gab.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das?
Wittig: Das hat ein Bündel von Ursachen. Es ist ja oft die Rede von britischem Exzeptionalismus. In einer Hinsicht gibt es den wohl wirklich, das ist die Sicht auf Europa. Nicht alle, aber viele Briten blicken völlig anders als Kontinentaleuropäer auf die EU. Für die Briten war die EU immer vor allem ein wirtschaftliches Projekt, auch ein sicherheitspolitisches Projekt – aber eben nie ein Friedensprojekt, die erfolgreichste Antwort Europas auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
SPIEGEL: Von den größten Brexit-Hardlinern wurde die EU auch gern mal als Versuch der Deutschen beschrieben, das zu erreichen, was sie in zwei Weltkriegen vergeblich versucht haben.
Wittig: Ja, das war manchmal das Narrativ der besonders demagogischen Brexit-Presse, und das hat die Sicht aus Europa in besonderer Weise negativ geprägt.
SPIEGEL: War es unvermeidlich, dass der Brexit zum Chaos führen würde?
Wittig: Das glaube ich nicht. Da sind wir wieder bei der fehlenden Kompromisskultur. In anderen Ländern hätte man bei einer nationalen Frage dieser Art eine Koalition der nationalen Einheit geschmiedet. Aber das war in Großbritannien aufgrund der strukturellen und wahrscheinlich auch personellen Konstellation offenbar nicht möglich. Und man verrät keine Geheimnisse, wenn man sagt, dass es 2016 keine Strategie gab. Für die Abwesenheit eines Plans hat dieses Land büßen müssen.
SPIEGEL: Gibt es heute einen?
Wittig: Ich glaube, die Regierung hat die Weichen gestellt. Jetzt muss sie noch klären, wie sie auf diesem Weg weitergehen will. Das wird durch die schwere Rezession, die nun noch durch die Corona-Pandemie kommt, nicht einfacher. Aber wir sollten nicht zu selbstgefällig auf Großbritannien herabblicken. Man täusche sich nicht, das ist ein Land mit einem unglaublich innovativen Geist und großer Risikobereitschaft. Ihm stehen sicher schwere Jahre bevor, aber ich glaube nicht an den naturnotwendigen Abstieg Großbritanniens, auch nach dem endgültigen EU-Austritt nicht.
SPIEGEL: Boris Johnson ist offenbar bereit, sehr große Risiken einzugehen. Sie erinnern sich an den sehr undiplomatischen Ausdruck "Fuck Business". Sein Kabinett scheint bereit, ganze Industriesparten wie etwa die britische Autoindustrie zu opfern.
Wittig: Ja, die Briten sind vielleicht eher geneigt, für das, was sie als ihre Identität begreifen, auch wirtschaftliche Opfer zu bringen. Aber der industrielle Norden hat für diese Regierung nach dem erdrutschartigen Sieg oberste Priorität. Dort hat sie der Labourpartei erstmals in großem Stil Stimmen abgenommen. Und ich glaube, auch diese Regierung wird nicht hinnehmen, dass es dort zu Massenarbeitslosigkeit kommt. Die ideologische Sicht auf den Brexit wird sich abmildern.
SPIEGEL: Sie hatten das Glück oder Pech, zwei ungewöhnliche Staatsmänner aus nächster Nähe zu erleben, nämlich Donald Trump und Boris Johnson. Mit welcher der beiden Regierungen war es einfacher umzugehen?
Wittig: Die Spaltung der Gesellschaft in Großbritannien ist nicht so tief wie in den USA. Die politische Kultur ist nicht so verroht, und wie die US-Administration mit Europa und besonders mit Deutschland umgeht, auch das ist nicht vergleichbar mit der in London.

Donald Trump und Boris Johnson: "Bei beiden gibt es möglicherweise eine Neigung dazu, alte Strukturen mit Gewalt aufzubrechen."
Foto: PETER NICHOLLS/ AFPSPIEGEL: Sind Trump und Johnson sich so ähnlich, wie manche glauben?
Wittig: Man sollte den Vergleich nicht überstrapazieren. Bei beiden gibt es möglicherweise eine Neigung dazu, alte Strukturen mit Gewalt aufzubrechen. Und es gibt, oder gab zumindest, eine wechselseitige Sympathie zwischen Trump und Johnson. Aber die Persönlichkeiten sind fundamental unterschiedlich.
SPIEGEL: Wie haben Sie Johnson erlebt?
Wittig: Ich habe ihn ein paar Mal in Aktion erlebt. Da war er charmant, voller Elan und witzig. Aber brillante Rede und Humor haben in der Politik auch eine eigene Verführungskraft. Was politisch am Ende des Tages zählt, finde ich, sind Integrität, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit.
SPIEGEL: Ist der neue Johnson, den wir in der Coronakrise erleben, noch der alte?
Wittig: Ich kann das nur als Ferndiagnose sagen. Aber ich glaube, diese Krise wird ihn persönlich und auch als Regierungschef geprägt haben - es wäre seltsam, wenn es nicht so wäre. Diese Krise hat bei vielen die Prioritäten noch einmal anders geordnet.
SPIEGEL: Der Brexit ist allerdings Johnsons Toppriorität geblieben, womöglich gar der härtestmögliche. Es gibt inzwischen auch in der EU viele, die nach fast vier Jahren sagen: Liebe Briten, geht mit Gott, aber geht. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Wittig: Wir sollten uns weiter bemühen, Großbritannien so eng wie möglich an die Europäische Union zu binden. Europa kann im Konkurrenzkampf zwischen USA und China nur bestehen, wenn es stark und geschlossen auftritt. Ich fand es immer gut, dass die Bundesregierung in all diesen schwierigen Verhandlungsphasen die Stimme der pragmatischen Vernunft war. Ich rate allen, nicht an den kurzfristigen Effekt zu denken, sondern strategisch im Blick zu behalten, wo Europa in fünf, zehn oder 15 Jahren stehen soll.
SPIEGEL: Die Brexiteers haben immer geglaubt, am Ende werde das Schicksal des Brexits in Angela Merkels Händen liegen, die auf Druck der deutschen Autoindustrie schon klein beigeben werde. Hat man Ihnen das auch vermittelt?
Wittig: Natürlich ist Deutschland einer der wichtigsten Mitgliedstaaten der EU, und natürlich hat die Bundeskanzlerin einen großen Einfluss auf das Zukunftsverhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Zumal Deutschland im zweiten Halbjahr, wenn das Brexit-Endspiel ansteht, den EU-Ratsvorsitz übernehmen wird. Aber die Briten neigten immer dazu, die Dinge zu personalisieren. So funktioniert die EU nicht. Das hat man in London nie richtig verstanden.
SPIEGEL: Haben Sie Hoffnung, dass beide Seiten sich noch zusammenraufen?
Wittig: Ja, die habe ich. Die Wahrscheinlichkeit, dass es noch zu einem Verhandlungserfolg kommt, ist größer als die eines Scheiterns. Ich habe im Laufe der letzten Jahre vielfach erlebt, wie ein No-Deal-Szenario immer wieder als das wahrscheinlichste gesehen wurde. Aber am Ende des Tages berufen sich Regierungen stets auf ihre wohlverstandenen Eigeninteressen. Und das Eigeninteresse beider Seiten ist auf keinen Fall der Sprung über die Klippe – sozusagen in den Abgrund des No Deals.
SPIEGEL: Was werden Sie am meisten an Großbritannien vermissen?
Wittig: Die fantastische Kulturszene Londons, die herrlichen Gärten und Kathedralen im ganzen Land, die lustigen Gespräche mit Hundebesitzern im Hyde Park; auch den freundlichen Umgangston im Alltag, der mir nach meiner Rückkehr nach Berlin besonders fehlt. Und natürlich die Scones mit Clotted Cream und Jam!