Brexit-Feier in London Stiller Abschied von Europa

Polizisten zu Pferde vor Big Ben, wo die Brexit-Anhänger still feierten
Foto: Hollie Adams / Getty Images»Sind Sie auch ein Brexiteer?« – mit dieser Frage versucht eine Handvoll Menschen neben dem Big Ben um kurz vor 23 Uhr die Gleichgesinnten zu finden. In der Silvesternacht sind die Straßen in der britischen Hauptstadt fast leer. Der Parliament Square und der Trafalgar Square sind abgeriegelt. Die Polizisten in der Innenstadt bitten Passanten höflich, nicht herumzustehen und sich nicht in Gruppen zu versammeln. Das Coronavirus macht London zu einer Geisterstadt.

Der entscheidenden Moment: 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit, der endgültige Bruch mit der Europäischen Union
Foto: ANDY RAIN/EPA-EFE/ShutterstockUm 23 Uhr läutet der Big Ben. Offiziell – so heißt es auf der Seite des Parlaments – ist es nur ein Test vor dem Läuten um Mitternacht für das neue Jahr. Das Londoner Wahrzeichen wird seit 2017 repariert. Es ist bedeckt mit Baugerüsten und läutet nur aus besonderen Anlässen. Doch für Julia Stephenson und Lucy O'Sullivan und für andere Anhänger des Brexits ist es kein Test, sondern ein großes Zeichen für den endgültigen Bruch mit der Europäischen Union.
Die beiden Frauen haben im vergangenen Jahr bei den Parlamentswahlen für die Brexit-Party des Rechtspopulisten Nigel Farage kandidiert. Wenn die Glocke um 23 Uhr erklingt, jubeln sie. O'Sullivan, eine 69-jährige Frau in einer feinen Pelzmütze, schwenkt die britische Fahne und ruft: »Ich kann diese rechthaberische, diktatorische, autoritäre EU nicht leiden!« Ein paar vorbeifahrende Autos hupen, einige Minuten später öffnet ein Mann eine Flasche Sekt und bespritzt damit alle um sich herum.
Premier Boris Johnson in seiner Neujahrsansprache
Am 31. Januar, als Großbritannien die politischen Strukturen der EU verlassen hat, war Farage persönlich auf dem Parliament Square, um die Sekunden bis zum Brexit zu zählen. Der endgültige Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion passiert dagegen ohne großen Pomp. Die Pandemie stellte diesen historischen Tag in den Schatten.
Der Premierminister Boris Johnson hat den Brexit in seiner Neujahrsansprache nur kurz erwähnt. »Dies ist ein großartiger Moment für dieses Land. Wir haben die Freiheit in unseren Händen, und es liegt nun an uns, das Beste daraus zu machen«, sagte er. Viele Briten sind erleichtert, dass ein Abkommen mit der EU im letzten Moment doch ausgehandelt wurde. Und nur wenige Hardcore-Brexiteers lassen tatsächlich öffentlich die Korken knallen.
»Wir sind enttäuscht, dass nicht mehr Menschen hier sind, um zu feiern«, sagt Stephenson. Überhaupt sei sie gegen Lockdowns und findet, dass die Regierung den Menschen ihre Freiheiten wegnehme. O'Sullivan sieht schon einen neuen großen Kulturkampf »zwischen den Libertären und den Kommunisten« kommen. »Die meisten Brexiteers sind gegen Lockdowns. Remainer sind dafür«, glaubt sie.
Farage-Anhängerin Julia Stevenson
Mit dem Deal, der am Mittwoch hastig im Parlament durchgewunken und noch am gleichen Tag von der Queen in Kraft gesetzt wurde, sind die beiden Farage-Anhängerinnen weitgehend zufrieden. »Wir werden jetzt global agieren! Wir müssen wachsen!«, ruft O'Sullivan. Auch Lee, ein grauhaariger Mann in einem Union-Jack-Hut, der neben ihr steht, ist optimistisch. »Wenn Covid vorbei ist, wird es uns wieder gut gehen«, sagt er. »Unsere Zukunft ist glänzend, wir werden wieder selbst mehr Waren herstellen und Kontrolle über unsere Grenzen bekommen.«

Brexiteers fotografieren die Turmuhr von Big Ben: Um 23 Uhr ist der Bruch mit der EU endgültig
Foto: ANDY RAIN/EPA-EFE/ShutterstockNichts Gutes für die britische Wirtschaft
Die Realität dürfte aber schon bald die Briten enttäuschen, die solchen Slogans glauben. Denn für die Wirtschaft bedeutet die Scheidung von der EU nichts Gutes. Der Handel zwischen Großbritannien und der EU bleibt zwar zollfrei, allerdings nehmen bürokratische Hürden zu. Die Im- und Exporteure müssen jetzt Zollerklärungen für ihre Waren ausfüllen. Laster müssen an der Grenze viel häufiger kontrolliert werden, um sicherzustellen, dass die transportierten Produkte den Qualitätsstandards entsprechen.
In der Silvesternacht waren die unmittelbaren Folgen dieses Bruchs noch nicht zu spüren. Im Hafen von Dover wird in den nächsten Tagen weniger Verkehr erwartet, weil nach dem Neujahrstag ein Wochenende folgt. Zudem legten viele Firmen in den letzten Wochen genügend Vorräte für den Fall eines Austritts ohne Abkommen an. Doch in den kommenden Wochen, wenn der normale Güterverkehr wieder fließt, könnte es in Dover doch zu Staus und Verzögerungen kommen. Großbritannien plant bei den Kontrollen eine Übergangsphase von sechs Monaten, die EU will sie dagegen sofort anwenden.
Schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon
Im Vergleich zu England sind andere Teile des vereinigten Königreichs noch weiter von der feierlichen Stimmung entfernt. In Schottland und Nordirland stimmten die Landesparlamente gegen den Deal – ein symbolischer Akt der Ablehnung. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon twitterte in der Nacht: »Schottland wird bald zurückkehren, Europa. Lasst das Licht an.«
Scotland will be back soon, Europe. Keep the light on 🏴❤️🇪🇺❤️🏴 pic.twitter.com/qJMImoz3y0
— Nicola Sturgeon (@NicolaSturgeon) December 31, 2020
Und auch in London, einer Stadt, die 2016 mehrheitlich gegen den Brexit stimmte, wurde die Jubelstimmung der Brexiteers von vielen Einwohnern nicht geteilt. Anna Strong, eine Studentin, die ans Ufer der Themse mit einer Freundin und einer Thermoskanne Glühwein kam, um sich das Silvesterfeuerwerk anzuschauen, findet den Brexit-Deal »schrecklich«. Da sie nur 18 Jahre alt ist, durfte sie im Referendum nicht abstimmen. Jetzt muss sie aber mit den Folgen leben.
Sie wird etwa nicht mehr am Erasmus-Austauschprogramm im Rahmen ihres Filmstudiums teilnehmen können. Schuld dafür gibt sie unter anderem ihrem eigenen Vater. Er stimmte für den Austritt aus der EU, obwohl er neben dem britischen auch einen griechischen Pass besitzt und inzwischen in Griechenland lebt. »Er stimmte für den Brexit, weil er die EU für einen Haufen Kapitalisten hält. Jetzt ist er selbst traurig über die Folgen«, seufzt Strong.
Sie hofft nun, dass der Vater ihr zumindest hilft, einen griechischen Pass zu bekommen. So würde sie dem Beispiel von Stanley Johnson folgen, dem Vater des Premierministers, der gerade bekannt gab, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen.