Brexit-Videokonferenz mit EU-Führung Johnson will den Tiger im Tank

Bei der Videokonferenz mit den Spitzen der EU macht Großbritanniens Premier deutlich, wovon er sich bei den Brexit-Verhandlungen leiten lässt - von seinem Wahlprogramm und sonst gar nichts.
Von Markus Becker und Peter Müller, Brüssel
Großbritanniens Premier Johnson bei der Videokonferenz mit der EU-Führung: Tiger im Tank

Großbritanniens Premier Johnson bei der Videokonferenz mit der EU-Führung: Tiger im Tank

Foto: ANDREW PARSONS/ AFP

Boris Johnson, das muss man ihm lassen, weiß, wie man Europas Spitzenpolitiker umschmeichelt. Die Videoschalte mit den Präsidenten von EU-Kommission, Rat und Europaparlament, Ursula von der Leyen, Charles Michel und David Sassoli, dauert noch nicht lange, da bringt der britische Premierminister ein Zitat von Jacques Delors. Der ehemalige EU-Kommissionschef aus Frankreich wird in Brüsseler EU-Kreisen regelrecht verehrt. Delors brachte den heutigen Binnenmarkt auf den Weg und legte die Grundlagen für die Währungsunion.

Ausgerechnet Ober-Brexiteer Boris Johnson - der Mann also, dem es zuletzt gar nicht schnell genug gehen konnte, die EU zu verlassen -, zitiert nun, so berichten es Teilnehmer, einen der Großen des europäischen Einigungsprozesses. Bei den Brexit-Verhandlungen, sagte Großbritanniens Premier auf Französisch, müsse man endlich "den Tiger in den Tank" packen. Ratspräsident Michel war offenbar so beeindruckt, dass er das Zitat prompt auf Twitter wiederholte – nicht ohne zu ergänzen, dass er auch nicht die "Katze im Sack" kaufen wolle. Es war eine aufreizend lockere Wortwahl angesichts der Tatsache, dass viele Tausend Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.

Vom Tiger im Tank ist man in den Brexit-Verhandlungen ohnehin weit entfernt. Nichts fehlt den Gesprächen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien derzeit mehr als Geschwindigkeit, Zug zum Ziel und Dynamik. Allerdings weiß man aufseiten der EU auch genau, wo man den Schuldigen für den Stillstand zu verorten hat: bei den Briten, die auf einmal von den Vereinbarungen, denen sie in der politischen Erklärung zugestimmt hatten, nichts mehr wissen wollten. "Es bestand auf beiden Seiten Einigkeit, dass neuer Schwung nötig ist", sagte von der Leyen nach dem Videotreff diplomatisch.

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Beide Seiten wollen es noch einmal wissen, das ist die Botschaft. Ob sie von beiden Seiten gleichermaßen ernst gemeint ist, lässt sich nicht sagen. Bis Juli, so heißt es in der dürren Abschlusserklärung, die nach dem Gespräch am Montagnachmittag versandt wurde, sollten die Gespräche intensiviert werden. Führende EU-Beamte können sich sogar vorstellen, in der eigentlich heiligen Brüsseler Sommerpause im August weiterzureden.

Immerhin, auch das wiederholte Johnson: Die Briten werden die Übergangsfrist, in der die EU-Regeln in Großbritannien noch anwendbar sind, auf keinen Fall verlängern: Ende Dezember 2020 ist Schluss. Damit ist zumindest klar: Entweder, die Briten und die EU einigen sich doch noch auf Grundzüge eines Freihandelsvertrages – oder es kommt der harte Brexit.

Fundamentale Differenzen bleiben bestehen

Knapp eine Stunde unterhielt man sich am Montagnachmittag. Zunächst sprach Ursula von der Leyen, Ratspräsident Michel ergänzte, nach Johnson war EU-Parlamentspräsident Sassoli dran. Abgesehen vom Delors-Zitat ging es nüchtern und sachlich zu. Inhaltlich hielt man sich an das Statement, das beide Seiten praktischerweise schon übers Wochenende abgestimmt hatten. Die Tatsache, dass es in der Sache bei dem Treffen nicht voranging, spielte man anschließend in der Kommission herunter. Man habe von vornherein nur über den Stand der Gespräche reden und nicht über Sachfragen verhandeln wollen.

Johnson machte deutlich, dass die Europäer einer Illusion anhingen, wenn sie glaubten, dass die Briten nach Ende des Jahres weiterhin einfach EU-Regeln übernehmen, um so gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen der Insel und dem Kontinent herzustellen - ein Punkt, der bei den Verhandlungen "Level Playing Field" genannt wird. Er könne es seinen Wählern nicht verkaufen, wenn Großbritannien weiterhin Regeln der EU übernehmen müsse, ohne sie mitzubestimmen, sagt er.  Das "dynamic alignment", also die laufende Anpassung britischer Regeln an EU-Recht, wie es sich manche in der EU noch erträumen, dürfte damit kaum noch durchzusetzen sein.

Der zweite Punkt, den Johnson macht, zielt ebenfalls ins Herz der EU-Verhandler: Der Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern werde nicht mehr der gleiche wie vorher sein, stellt der Briten-Premier klar. Über britische Gewässer entschieden nun mal die Briten. Allerdings, auch das fällt Teilnehmern auf: Johnson wiederholt die alte britische Forderung nicht mehr, wonach die Fangquoten für EU-Fischer jedes Jahr neu ausgehandelt werden sollen. Von EU-Seite hatte es immer geheißen, dass dies praktisch kaum durchzuführen sei. Außerdem wollen die Briten den größten Teil ihres Fangs in Europa verkaufen, auch das gibt der EU ein Druckmittel.

Warum Gespräche intensivieren, die nicht vorankommen?

Weitere Themen wurden gestreift. Durch den EU-Austritt ist beispielsweise der britische Zugang zu wichtigen EU-Datenbanken gefährdet, was die Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung stark erschweren würde. Die größte Hürde ist derzeit, dass die britische Regierung die Europäische Menschenrechtskonvention künftig nicht mehr formell anwenden will. Für die EU ist die Zusammenarbeit in der Strafverfolgung damit beendet.

Und dann ist da noch die Frage, welche Rolle der Europäische Gerichtshof bei der Umsetzung eines künftigen Abkommens haben wird. Die EU hält es für unerlässlich, dass der EuGH in Streitfällen das letzte Wort hat, schon damit es Rechtssicherheit gibt – die britische Regierung aber lehnt genau das ab. Es werde keine Rolle des EuGH bei irgendeinem Teil eines Abkommens geben, soll Johnson beim Videotreff klargemacht haben.

Angesichts der vielen Streitfälle stellt sich die Frage: Was soll es bringen, Gespräche zu intensivieren, die einfach nicht vom Fleck kommen? In Brüssel heißt es, dass es mehr politische Führung von oben geben müsse – womit vor allem der britische Premier gemeint ist: Er soll endlich entscheiden, was er will, und seinen Verhandlungsteams ein entsprechend klares Mandat geben.

Für Johnson zählt nur eins: sein Wahlprogramm

Genau das tut Johnsons aber, jedenfalls aus seiner Sicht. Für ihn ist der Brexit die Einlösung eines politischen Versprechens an seine Wähler. Er sagt das, nach allem was man hört, bei der Schalte sehr deutlich. Die Grundlage für seine Politik sei sein Wahlprogramm, sein Manifest.

Führende Europapolitiker plädieren daher für eine neue Verhandlungsstrategie und fordern Barnier auf, sich vom Ansatz: "Null Zölle, Null Quoten, Null Dumping” zu verabschieden: "Ohne faire Standards kann es nur einen begrenzten Zugang zum Binnenmarkt mit Zöllen und Quoten geben", sagte etwa die europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag Franziska Brantner dem SPIEGEL. Und Martin Schirdewan, der für die Linke in der UK-Koordinierungsgruppe im Europaparlament sitzt und über die Videoschalte unterrichtet wurde, mahnt Arbeitnehmer und Unternehmen, sich auf einen harten Brexit vorzubereiten. "Die EU muss endlich akzeptieren", sagt er, "entweder es gibt ein schlechtes Abkommen oder einen harten Brexit".

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