Vor Treffen mit Brexitbeauftragten der EU Britische Außenministerin droht erneut mit Artikel 16 des Nordirland-Protokolls

Britische Außenministerin Liz Truss: In den Nordirland-Verhandlungen auf Johnsons Linie
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Eigentlich ist der Brexit, also die Loslösung Großbritanniens von der Europäischen Union, seit einem Jahr vollzogen. Der ganze Brexit? Nein. Seit gut einem halben Jahr versucht die britische Regierung von Premierminister Boris Johnson, einen Teil des Austrittsabkommens nachzuverhandeln: jenen Teil, der die Handels- und Zollmodalitäten mit Nordirland regelt.
Das sogenannte Nordirland-Protokoll sieht vor, dass der politisch zu Großbritannien gehörende Teil Irlands auch weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion folgen soll. Damit wird eine harte Grenze zu Irland vermieden, damit es möglichst nicht zu neuen Spannungen in dem früheren Bürgerkriegsgebiet kommt. Allerdings ist dadurch eine Warengrenze zum Rest des Vereinigten Königreichs entstanden, es kommt zu Einschränkungen im innerbritischen Handel, die britischen Konservativen großes Ungemach bereitet – und somit auch der politisch durch Brexit-Probleme und Coronakrise angeschlagenen Regierung Johnsons.
Außenministerin Liz Truss zeigte sich nun vor ihrem ersten Treffen mit dem EU-Brexit-Beauftragten Maroš Šefčovič am kommenden Donnerstag unnachgiebig in der Nordirland-Frage. Sie sei bereit, die Notfallklausel in Artikel 16 des Protokolls auszulösen, schrieb sie in einem Gastbeitrag für die Zeitung »Sunday Telegraph«. Damit würden Teile der Brexit-Vereinbarung zwischen Brüssel und London außer Kraft gesetzt. Artikel 16 könnte greifen, wenn Großbritannien durch die Nordirland-Regelung in ernste wirtschaftliche, soziale oder ökologische Schwierigkeiten gerate, heißt es im Text der Vereinbarung.
Tatsächlich kommt es derzeit durch den Brexit in ganz Großbritannien zu Liefer- und Versorgungsengpässen, allerdings dürfte Nordirland durch seinen Zugang zum EU-Binnenmarkt davon nicht so schlimm betroffen sein wie Schottland, Wales oder England. Die Vermutung liegt nahe, dass es Johnson vor allem um die Befriedung innenpolitischer Konflikte geht. Die sogenannten Loyalisten, protestantische Konservative in Nordirland, fürchten durch das Abkommen ein Auseinanderdriften ihrer Provinz und Großbritanniens – und lobbyieren hartnäckig dafür, die Vereinbarung zu torpedieren.
»Ich werde nichts unterschreiben, was dazu führt, dass die Menschen in Nordirland nicht von denselben Steuern und Ausgaben profitieren können wie der Rest des Vereinigten Königreichs oder dass der Warenverkehr innerhalb unseres Landes weiterhin kontrolliert wird«, schrieb sie in ihrem Beitrag. »Ich möchte eine Verhandlungslösung, aber wenn wir auf legitime Bestimmungen wie Artikel 16 zurückgreifen müssen, bin ich bereit, dies zu tun«, so Truss. Eine Drohgebärde.
EU-Botschafter João Vale de Almeida
Nach dem überraschenden Rücktritt des ehemaligen Brexit-Ministers David Frost ist Truss nun für die Beziehung Großbritanniens zur EU zuständig. Zuletzt hatte die britische Regierung die Schärfe aus der Verhandlung etwas herausgenommen. Doch Truss, die einst gegen den EU-Austritt Großbritanniens votierte, scheint nun erneut auf Härte zu setzen. Neben der Drohung, Artikel 16 zu aktivieren, erneuerte sie die ebenfalls bekannte Forderung der Briten nach einem Ende der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für die Streitigkeiten über das Nordirland-Protokoll. Am Donnerstag soll das Treffen mit EU-Kommissionsvize Šefčovič auf dem Landsitz von Truss in Chevening stattfinden.
Im Interview mit dem SPIEGEL hatte sich Šefčovič diplomatisch, aber auch besorgt über die Drohung mit Artikel 16 gezeigt: »Wenn die britische Regierung diesen Weg ginge, wäre das ein enormer Rückschlag für unsere Beziehungen – dabei haben wir so viel politisches und diplomatisches Wohlwollen investiert, um einen geordneten Brexit zu ermöglichen und eine einzigartige Lösung für Nordirland zu finden«, sagte er.
Die EU hat mehrfach erklärt, dass sie die Anwendung des Artikels nicht für gerechtfertigt hält und dass sein Einsatz zum Scheitern des umfassenderen Brexit-Abkommens, des Handels- und Kooperationsabkommens, führen könnte. João Vale de Almeida, EU-Botschafter in Großbritannien, sagte dem Sender Sky News am Sonntag, es sei nicht hilfreich, »das Thema« der Auslösung von Artikel 16 »weiter aufzuregen«. »Wir haben das schon einmal von der Regierung gehört, also sind wir nicht überrascht. Wir sind nicht sehr beeindruckt«, so der Botschafter.