Großbritannien vor dem Brexit "Fast die Hälfte empfindet Abscheu oder Ekel"

Brexit- Befürworter und Gegner streiten sich vor dem Parlament in London
Foto: Henry Nicholls / REUTERSSPIEGEL: Wie würden Sie das politische Klima so kurz vor dem Brexit beschreiben?
Bruter: Die Menschen haben starke negative Gefühle gegenüber Mitbürgern, die bei Wahlen anders abstimmen. Fast die Hälfte sagt sogar, sie empfänden Abscheu oder Ekel.
SPIEGEL: War das schon immer so, oder herrscht heute mehr Feindseligkeit als früher?
Bruter: Wir haben ähnliche Umfragen schon 2017 durchgeführt. Seitdem hat sich das Klima verschlechtert. In unserem Projekt über Wählerverhalten schauen wir insgesamt auf 27 Länder und stellen fest, dass Großbritannien keine Ausnahme ist. Die zunehmende Feindseligkeit der Wähler untereinander ist ein weltweit verbreitetes Phänomen, aber in Großbritannien ist sie noch ein bisschen stärker ausgeprägt als in einigen anderen Ländern.
SPIEGEL: Hat der Brexit diese Polarisierung verstärkt?
Bruter: Der Brexit ist ein starker Katalysator, doch die Spaltungen gab es schon früher. Menschen, die in der EU bleiben wollen, sagen, dass die Brexiteers ihre Identität ablehnen. Und diejenigen, die für "Leave" gestimmt haben, sagen, dass die Remainers ihre Niederlage nicht akzeptieren können. Beim Brexit geht es nicht um technische Entscheidungen, sondern um Identität, und diese Frage ist sehr stark mit Emotionen aufgeladen, auf beiden Seiten. Im Jahr des Referendums sprach man oft davon, dass dies ein Kampf zwischen emotionalen Brexiteers und rationalen Remainers sei. Das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit sind die Remainers genauso emotional wie die Brexiteers. Bei einer anderen Umfrage sagten uns mehr als ein Drittel der Menschen, dass sie in der Nacht des Referendums geweint haben - das waren sowohl Leavers als auch Remainers.
SPIEGEL: Machen starke Gefühle die Menschen für rationale Argumente unerreichbar?
Bruter: Wir haben uns inzwischen von der Vorstellung entfernt, dass Emotionen und Vernunft einander entgegengesetzt sind. Tatsächlich definiert unsere Vorstellung von Rationalität unsere Emotionen. Und es gibt auch Fälle, in denen Menschen ihre Emotionen rationalisieren. Um Ihnen ein Beispiel zu geben - viele Menschen sagen, dass es nicht ihre eigene Feindseligkeit ist, sondern dass sie nur auf die Feindseligkeit anderer reagieren. Menschen liefern rationale Erklärungen dafür, warum sie frustriert und wütend sind, aber ihre rationalen Überzeugungen sind in Emotionen eingebettet.
SPIEGEL: Welche Folgen hat die Polarisierung für eine Demokratie ?
Bruter: Wir forschen über demokratische Frustration, weil wir wissen wollen, wozu die Menschen bereit sind, wenn sie unglücklich sind. Fast 20 Prozent der Briten sagen in unseren Umfragen, dass sie bereit wären, an einer Revolution teilzunehmen oder das Land zu verlassen, wenn sie mit der Politik unzufrieden sind. Ein Fünftel ist ein hoher Anteil für so eine stabile Demokratie mit einer langen Geschichte. Außerdem glauben nur 27 Prozent der Briten, dass ihre Kinder und Enkelkinder besser leben werden als sie selbst. Diese Form von Pessimismus ist der perfekte Nährboden, auf dem die Feindseligkeiten noch weiter wachsen werden.
SPIEGEL Nach den Parlamentswahlen erklärte Boris Johnson, dass er das Land vereinen will. Wird ihm das gelingen?
Bruter: Früher gab es zu Beginn jeder Wahlperiode so etwas wie "Flitterwochen". Auch die Verlierer sagten nach der Wahl: Das ist eine legitime Regierung, und wir sollten ihr eine Chance geben. Aber seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts geschieht dies immer seltener. Die Gewinner wollen nicht, dass ihre Partei Zugeständnisse macht. Und die Verlierer, in diesem Fall die Unterstützer der Labour Party oder der SNP , sind nicht bereit, der Regierung eine Karenzzeit zu gönnen. Die Umfragen zeigen, dass es immer noch eine Mehrheit der Menschen gibt, die der Meinung sind, dass der Brexit ein Fehler ist und dass Großbritannien die EU nicht verlassen sollte. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Bereitschaft, der anderen Seite einen Vertrauensvorschuss zu geben.