Aufstand in Chile Die Wut weicht nicht

Demonstration in Chiles Hauptstadt Santiago: Fast nichts hat sich verbessert.
Foto: IVAN ALVARADO/ REUTERSAm Anfang kribbelt das Tränengas bloß in der Nase, so gering ist es noch konzentriert, am Rande der "Zone null" der chilenischen Hauptstadt Santiago. Es kratzt im Hals, wenn man weiter auf die Plaza Baquedano zugeht, wo sich Polizei und Randalierer Abend für Abend Straßenschlachten liefern. Und es treibt einem die Tränen in die Augen, sobald man in eine Wolke aus einer Gasgranate gerät.
Mit einem Plebiszit über eine neue Verfassung wollte Chiles konservativer Präsident Sebastián Piñera die Bürger beruhigen, im April soll es stattfinden. Doch die Gesellschaft kommt nicht zur Ruhe. Freitag für Freitag demonstrieren in den Großstädten Hunderttausende, meist friedlich, gegen Ungleichheit, Armut und Korruption. Und fast jeden Abend liefern sich Demonstranten und die Staatsmacht an der Plaza Baquedano gewalttätige Scharmützel - oft sogar bei laufendem Verkehr.
Menschen auf den Straßen schleudern Steine auf die gepanzerten Wagen. Menschen in den Fahrzeugen feuern zurück: mit Wasser, teils mit Chemikalien versetzt oder mit Tränengasgranaten. Und manchmal verschießen die Carabineros Hartgummigeschosse: Medienberichten zufolge haben mehr als 300 Menschen ein Auge verloren oder sind im Gesicht verletzt worden. Die Polizei verweigert eine Stellungnahme zu diesen Vorwürfen.
Spur der Verwüstung
"Ich habe kein Verständnis mehr", sagt Oscar Valderrama und tränkt einen Lappen mit Terpentin. Der 43-jährige Eigentümer des Mito Casa Boutique Hotel und seine Mitarbeiter wollen an diesem Morgen die Graffiti wegschrubben, die die Fassade des Hauses übersäen. "Wenn sie das hier sehen, drehen zwei von drei neu angemeldeten Gästen sofort wieder um", sagt Valderrama.
Keine 200 Meter ist das Mito entfernt von der Plaza Baquedano, dem Epizentrum der Proteste. Entsprechend sieht es aus. Die unteren Scheiben sind von Steinen eingeschmissen, die seltenen Topfpflanzen an der Pforte abgefackelt worden. In der Außenmauer klaffen Einschlaglöcher von Wurfgeschossen. Aus dem "MITO"-Logo am Eingang hat ein Sprayer "VOMITO" gemacht, das heißt "ich kotze".

Proteste in Chile
Ivan Alvarado/ REUTERS
Mehr als zwei Dutzend Menschen sind landesweit während der Tumulte umgekommen. Erst kürzlich starb nahe der Plaza Baquedano ein Protestler, als er vor der Polizei wegrannte - und im Dunklen in einen offenen Kanalschacht fiel.
Früher war diese Gegend ein bürgerliches, belebtes Viertel. Jetzt ist sie Gefahrengebiet. Fast jedes Gebäude ist besprayt oder mit meterhohen Metallbarrikaden verrammelt. Einige Fassaden sind verkohlt von Feuern, die hier brannten. Hunderte Scheiben sind eingeschlagen, manche Geschäfte geplündert worden. Denkmäler sind beschmiert und beklebt. Löcher klaffen stellenweise dort, wo einst Straßenpflaster oder Bordsteine waren. Die Randalierer hämmern Brocken ab und verwenden sie als Wurfgeschosse - manchmal auch gegen Unbeteiligte.
An diesem Januarabend herrscht Anarchie rund um die Plaza Baquedano. Auf der Straße lodern Feuer aus Müll. Einige Männer schleudern gezielt Steine auf ein zufällig vorbeifahrendes Auto. Die Steine durchschlagen die Heckscheibe, der Fahrer beschleunigt und rast davon, quer durch die Menschenmenge auf dem Platz.
Was ist nur los in der "Schweiz Südamerikas", wie Chile einst bezeichnet wurde? Während Argentinien eine Staatspleite nach der nächsten hinlegte, während sich in Brasilien Korruptionsskandale häuften und frustrierte Bürger den Rechtsradikalen Jair Bolsonaro zum Präsidenten wählten, machte Chile nur Schlagzeilen mit Wachstumsraten. Das Land galt als Hort der Stabilität.
Doch hinter der Fassade wurden die Risse in der Gesellschaft immer tiefer. Entstanden waren sie schon vor Jahrzehnten. Der Diktator Augusto Pinochet, der bis 1990 herrschte, verschrieb Chile einen neoliberalen, kaum gezügelten Kapitalismus. Und seine demokratisch gewählten Nachfolger änderten daran wenig. Viele Menschen haben kaum etwas vom jahrzehntelangen Wirtschaftsboom. Wer zu den Schwachen zählt, hat fast keine Chance, aufzusteigen.
Das reichste eine Prozent der Chilenen verfügt über zwölfmal so viel Vermögen wie die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung zusammen. Das wirkt sich auf das gesamte Leben aus, denn der Sozialstaat ist unterentwickelt.
Schüler und Studenten rebellierten zuerst
Eine gute Ausbildung oder eine halbwegs zuverlässige Gesundheitsvorsorge bekommen nur diejenigen Chilenen, die einzahlen in die privaten Systeme. Wer kein Geld hat, der muss seine Kinder auf öffentliche Schulen schicken: berüchtigt ob überfüllter Klassen, wenig qualifizierter Lehrer und mangelhafter Ausstattung. Öffentlich Krankenversicherte müssen selbst bei schweren Leiden oft monatelang auf einen Arzt warten. Immer wieder kommt es vor, dass Patienten ihren Krebsoperations-Termin zugewiesen kriegen, die längst gestorben sind. Wer ins allgemeine Rentensystem einzahlt, muss Altersarmut fürchten. Mehr als die Hälfte dieser Pensionisten bekommt nicht einmal den monatlichen Mindestlohn von umgerechnet 350 Euro ausgezahlt - bei Lebenshaltungskosten, die oft kaum geringer sind als in Deutschland.
Jahrelang haben die Chilenen all dies hingenommen. Am 18. Oktober 2019 brachen die Tumulte los. Entzündet hatte sich der Aufruhr an einer Fahrpreiserhöhung in Santiagos U-Bahn: um 30 Pesos, umgerechnet keine 0,04 Euro. Schüler und Studenten rebellierten damals zuerst. Sie sind noch immer eine tragende Gruppe des Aufstands.
"Diese Generation hat die Diktatur nicht mehr miterlebt", sagt die Anthropologin Magdalena Claude, die eine Untersuchung über die neue Protestbewegung veröffentlicht hat. "Sie hat keine Angst mehr vor der Repression. Und die sozialen Netzwerke helfen nicht nur bei der Organisation. Sie schaffen eine gemeinsame Identität."
Einen klaren Anführer hat die Bewegung bis heute nicht; sie organisiert sich über Versammlungen, Facebook und WhatsApp. Doch Victor Chanfreau, 18, Sprecher der Schülervereinigung ACES, wird zunehmend zum Gesicht der Bewegung. Immer öfter richten sich die Kameras auf den jungen Mann mit dem dichten dunklen Haar und der noch kindlichen Miene. Manche vergleichen ihn schon mit Greta Thunberg, halb spöttisch, halb bewundernd.
"Wir können nicht länger mit verschränkten Armen warten"
"Dieses Land ist von Ungerechtigkeit geprägt. Unsere Generation glaubt nicht, dass die alten Parteien die Probleme lösen können", sagt Chanfreau. "Wir können nicht länger mit verschränkten Armen warten."
Chanfreau ist Enkel eines Kämpfers gegen die Pinochet-Diktatur, sein Großvater wurde von der Geheimpolizei gefoltert, ehe er spurlos verschwand. Landesweit bekannt wurde der junge Mann kürzlich mit dem Aufruf, die alljährliche Aufnahmeprüfung für die Universitäten zu boykottieren. Tausende folgten dem Appell, verbrannten Prüfungspapiere oder warfen sie aus dem Fenster. Dutzendfach mussten die Examen abgesagt werden. Das Innenministerium will Chanfreau und seine Mitstreiter verklagen.
Der Rädelsführer zeigt sich unbeeindruckt. Das jetzige System bevorzuge die Absolventen privat geführter Schulen, also die Kinder der Wohlhabenden, sagt er. "Chile braucht ein hochwertiges, kostenloses, öffentliches Bildungssystem", das für alle Klassen zugänglich sein müsse. Und das allein reiche nicht. Auch die öffentliche Gesundheitsversorgung müsse radikal verbessert, die Renten massiv erhöht werden.
Die Bewegung geht weit über die Schüler hinaus. Fast 180 Bürgervereinigungen bilden jetzt zusammen ein Bündnis namens "Unidad Social", das Proteste mitorganisiert. "Wir wollen die sozialen Grundrechte herstellen: Bildung, Gesundheit, Pensionen, Wasser", sagt Luís Mesina, einer der führenden Köpfe von "Unidad Social". Die traditionellen Parteien rechts wie links hätten kein Interesse an grundlegenden Veränderungen, kritisiert der frühere Gewerkschaftsführer. Dies zeige sich auch in ihrer Reaktion auf die Proteste: Piñera habe zwar das Referendum versprochen - im Lebensalltag der Chilenen aber fast nichts verbessert.