Wie eine Armada liegen sie vor der Küste Taiwans, als seien sie jederzeit bereit zum Angriff. Statt Militärschiffen handelt es sich hierbei allerdings um Sandbagger- und Transportschiffe. Sie dringen unerlaubt in taiwanesische Gewässer ein, sagt Lin Chie-Ming. Er ist Oberbefehlshaber der taiwanesischen Küstenwache. Lin erzählt, dass seine Behörde allein im vergangenen Jahr fast 4000 mal solche Schiffe zurück in chinesisches Territorium bringen musste. Mehr als fünfmal so oft wie noch 2019. Für ihn eine zermürbende Arbeit.
Lin Chie-Ming, Taiwanesische Küstenwache
»Eines dieser Sandbagger-Schiffe, die wir heute gesichtet haben, hatte gar keinen sichtbaren Namen, aber eine National-Flagge des chinesischen Festlands mit fünf Sternen. Ein zweites hatte auch die Flagge mit fünf Sternen, und der volle Name und die Registriernummer wurden entfernt, vermutlich absichtlich.«
So geht das für Lin jeden Tag. Sein Einsatzgebiet: Die Matsu-Inseln, wenige Kilometer vor der chinesischen Küste. Seit 1949 wird die Inselgruppe von Taiwan regiert. Peking betrachtet Taiwan als Teil Chinas, Taiwan sich selbst hingegen als unabhängigen demokratischen Staat. Laut den taiwanesischen Behörden tragen die Baggerboote Sand vom taiwanesischen Meeresgrund ab, um diesen für Bauvorhaben auf dem chinesischen Festland einzusetzen. Sie fassen bis zu 3000 Tonnen. Aufnahmen von Inselbewohnern zeigen, wie die Schiffe auf Anordnung der Küstenwache ihre Beute wieder abladen. Denn für Taiwan ist das ganz klar: Diebstahl. An manchen Tagen standen die neun Boote der Küstenwache der Matsu-Inseln schon einhundert bis zweihundert chinesischen Schiffen auf einmal gegenüber.
Lin Chie-Ming, Taiwanesische Küstenwache
»Die Anwohner fühlen sich eingeschüchtert von den Schiffen. Sie fragen sich, warum hier so viele Baggerschiffe herumfahren, und sie fragen sich, was wohl der Sinn dahinter sein könnte.«
Auch Chen Kuo-Chiangs Arbeit wird durch die Baggerboote beeinträchtigt. Er betreibt ein Fischrestaurant auf der Insel Nangan. Das Ausbaggern führe zu einem dramatischen Rückgang der Fischbestände, sagt er. Vor drei Jahren habe er noch täglich ein Dutzend Fische am Haken gehabt. Jetzt freut er sich über einen oder zwei.
Chen Kuo-Chiang, Gastwirt
»Wir wollen einfach nicht vom chinesischen Festland regiert werden, wir wollen unsere Freiheit behalten. Die Freiheit ist auf dem Festland total eingeschränkt. Es gibt große Unterschiede zwischen China und Taiwan, bezogen auf die Sprache, die Werte und die Art zu kommunizieren.«
Für ihn sind die Übergriffe auf See ein Ausdruck des ständig schwelenden Konflikts. Er fürchtet irgendwann eine militärische Invasion auf seiner Insel – und weiß schon was er dann tut:
Chen Kuo-Chiang, Gastwirt
»Ich werde meine Frau und Kinder in Sicherheit bringen und dann zu den Waffen greifen und kämpfen.«
Anzeichen dafür gibt es derzeit nicht. Doch Taiwan spricht von einer feindlichen »Grauzonentaktik«, die darauf abziele, Taiwans Ressourcen zu erschöpfen. Solche Belästigungen würden so lange zur Routine, bis sich die internationale Gemeinschaft irgendwann daran gewöhne. Lin Chie-Ming jedenfalls will sich nicht daran gewöhnen, tagein, tagaus Schiffe zurück in chinesisches Gewässer zu schicken.