Neuer Trend in der Entwicklungs- und Coronahilfe Cash aufs Handy

Es braucht nur ein Handy und eine PIN, um schnell Geld zu empfangen: In der Pandemie boomen weltweit Sozialprogramme mit modernen Zahlungssystemen, die auch Menschen ohne Bankkonto erreichen.
Mit mobilen Zahlungssystemen kommen Hilfsgelder direkt bei den Bedürftigen an

Mit mobilen Zahlungssystemen kommen Hilfsgelder direkt bei den Bedürftigen an

Foto: Thomas Mukoya / REUTERS
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Caroline Teti hat endlich einen Platz gefunden, an dem ihr Handy Empfang hat. Jetzt steht sie auf einem Hügel unter einem Baum, neben ihr gackern Hühner beim WhatsApp-Interview ins Telefon.

Die 42-Jährige arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation »GiveDirectly« und ist gerade in abgelegenen Dörfern im Westen Kenias unterwegs, um zu sehen, wie deren Lage in der Coronakrise ist. »GiveDirectly« unterstützt arme Familien mit elektronischen Zahlungen – das Geld erhalten sie per Mobiltelefon.

Die Organisation, die 2009 von Wirtschaftsstudenten der amerikanischen Eliteunis MIT und Harvard gegründet wurde, setzt sich für eine Trendwende in der Entwicklungspolitik ein: Anstatt Helfer loszuschicken, die Brunnen bohren oder Essen an Bedürftige verteilen, sollen Gelder direkt an Menschen in Not fließen.

Abgelegene, ländliche Gebiete wie hier in Kenia sind in der Coronakrise schwer zu erreichen

Abgelegene, ländliche Gebiete wie hier in Kenia sind in der Coronakrise schwer zu erreichen

Foto: Peter Muvunyi / Give Directly

»Wir geben den Leuten direkt und bedingungslos Geld, weil wir glauben, dass sie besser wissen, was ihnen fehlt und wo das Geld am sinnvollsten etwas bewirken kann«, sagt Teti.

Sogenannte Cash-Transfer-Programme, also direkte Geldtransfers an einzelne Empfänger, haben mittlerweile als Werkzeug der Entwicklungshilfe weltweit an Bedeutung gewonnen  – derzeit, während der Pandemie, ist geradezu ein Boom solcher Zahlungen durch Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen zu beobachten.

»M-Pesa«-Registrierung in Nairobi: Der Mobile-Payment-Dienst hat mittlerweile Millionen von Nutzern weltweit

»M-Pesa«-Registrierung in Nairobi: Der Mobile-Payment-Dienst hat mittlerweile Millionen von Nutzern weltweit

Foto: Trevor Snapp / Bloomberg / Getty Images

Einer Analyse der »Weltbank«  zufolge haben Staaten weltweit mehr als 800 Milliarden US-Dollar in Corona-Sozialprogramme investiert, eine historisch große Summe. Von den mehr als 1400 untersuchten Maßnahmen seien rund ein Drittel Cash-Transfer-Programme – fast doppelt so viele wie vor der Krise.

Millionen Menschen haben in Folge der Pandemie ihre Arbeit verloren und sind in die Armut gestürzt – Direktzahlungen können kurzfristig die wirtschaftlichen Folgen abfedern und die lokale Wirtschaft wieder beleben. Auch der technische Fortschritt trägt dazu bei, dass Geber sich zunehmend für Geldtransfers entscheiden: Während Lockdown-Maßnahmen und Gesundheitsgefahren Helfern den Zugang zu den Menschen erschweren, ermöglichen moderne Zahlungssysteme Überweisungen selbst in abgelegene Regionen.

In Kenia reicht eine Handynummer und eine PIN, um Geld zu überweisen oder zu empfangen

In Kenia reicht eine Handynummer und eine PIN, um Geld zu überweisen oder zu empfangen

Foto: Emmy Chepto / Give Directly

In Ländern, in denen mobile Zahlungssysteme bereits weitverbreitet sind, können Geldtransfers an ärmere Menschen relativ schnell organisiert werden. In Kenia reicht etwa eine Handynummer und eine PIN, um Geld zu überweisen oder zu empfangen – mit M-Pesa, dem Zahlungsdienst der Mobilfunkfirma Safaricom, können Nutzer ihr Handy seit 2007 als Geldbörse nutzen.

Mehr als die Hälfte der Kenianer ist bereits Kunde – wer sich registrieren will, muss sich eine SIM-Karte von Safaricom kaufen und sein M-Pesa-Konto aktivieren. »In der Krise muss es schnell gehen, deswegen haben die Regierung und andere Organisationen in Kenia bei ihren Corona-Programmen alle M-Pesa als Zahlungsmittel eingesetzt«, sagt Caroline Teti von »GiveDirectly«.

Caroline Teti, Africa Director Recipients Advocacy bei der Nichtregierungsorganisation »GiveDirectly«

Caroline Teti, Africa Director Recipients Advocacy bei der Nichtregierungsorganisation »GiveDirectly«

Foto: privat

Armensiedlungen wie Kibera oder Mathare in Kenias Hauptstadt Nairobi hat die Pandemie hart getroffen – viele Menschen waren im informellen Sektor tätig und haben ihre Jobs verloren. »GiveDirectly« überweist Slumbewohnern drei Monatszahlungen von jeweils rund 30 US-Dollar.

Per SMS erhalten die Nutzer eine Nachricht auf ihr Handy, sobald eine neue Zahlung eingetroffen ist – sie können sich das Geld dann bei einem der unzähligen M-Pesa-Agenten bar auszahlen lassen, mobil bei Verkäufern oder in Geschäften bezahlen oder ihr Guthaben in ihrer digitalen Geldbörse sparen.

Corona-Hotspot: Im Mathare-Slum in Nairobi leben die Menschen dicht gedrängt und in extremer Armut

Corona-Hotspot: Im Mathare-Slum in Nairobi leben die Menschen dicht gedrängt und in extremer Armut

Foto: TONY KARUMBA / AFP

Seit April 2020 haben 180.000 Slumbewohner aus drei kenianischen Städten die Unterstützung erhalten. Insgesamt hat »GiveDirectly« in der Pandemie mehr als 113 Millionen US-Dollar  Spendengelder eingesammelt und Corona-Hilfen an rund 511.000 Familien in afrikanischen Ländern wie Kenia, Malawi, Liberia und Ruanda ausgezahlt.

»Bono Familia« in Guatemala: Einkaufen mit einem Code

Länder, die keine bestehende Infrastruktur für Geldtransfers haben, mussten unter Zeitdruck neue Lösungen finden. Die guatemaltekische Regierung hat mit technischer Unterstützung von Weltbank und Unicef das bisher größte Sozialprogramm des Landes entwickelt – »Bono Familia«, Familienbonus.

»Es war ein Wunder, dass wir es geschafft haben, das Projekt innerhalb von zwei Monaten zu realisieren«, sagt Alejandra Contreras, Sozialpolitik-Expertin von Unicef und Projektleiterin von »Bono Familia«. »Wir haben ein sehr schwaches Sozialsystem in Guatemala und es gab bisher noch nicht einmal eine Datenbank aller potenziellen Sozialhilfeempfänger.«

In Guatemala leben rund 60 Prozent der Bürger in Armut, viele davon in ländlichen Gegenden. Das Land ist indigen geprägt – es gibt mehr als 20 indigene Sprachen im Land, viele Indigene können zudem kaum lesen oder schreiben.

In Guatemala leben rund 60 Prozent der Bürger in Armut – viele von ihnen sind indigen

In Guatemala leben rund 60 Prozent der Bürger in Armut – viele von ihnen sind indigen

Foto: Santiago Billy / UNICEF Guatemala

Um Bedürftige zu identifizieren, suchten Stromanbieter alle Kunden heraus, die im Februar 2020 einen Stromverbrauch von weniger als 200 Kilowattstunden hatten. Diese erhielten mit ihrer Rechnung einen Code, mit dem sie sich auf einer Onlineplattform, per Anruf bei einem eigens eingerichteten Callcenter oder per SMS für »Bono Familia« registrieren konnten. Die Empfänger der Sozialhilfe erhielten wenige Tage später per SMS ihren Token, eine 16-stellige Zahlenfolge.

Allein mit diesem Token und ihrer Ausweisnummer konnten sie dann Geld bei Banken oder Automaten abheben – Geldautomaten im ganzen Land waren mit der neuen Funktion »Bono Familia« ausgestattet worden, sodass sie auch kartenlos funktionierten. Auch bei Partner-Geschäften wie Supermärkten, Tankstellen und Apotheken funktionierte der Einkauf digital.

Kritik, dass die ärmsten Bürger gar keinen Stromanschluss haben und weder Telefon noch Handy besitzen, versuchte die Regierung aufzufangen, indem sie zusätzlich Mitarbeiter von Haus zu Haus schickte. Teams mit Tablets registrierten rund 115.000 Haushalte vor Ort – den Token erhielten die Leute, die kein Handy hatten, ausgedruckt.

Ursprünglich waren rund zwei Millionen Empfänger geplant gewesen, am Ende profitierten mehr als 2,6 Millionen Guatemalteken von dem Programm. Im Mai sowie im August 2020 erhielten die Beteiligten jeweils umgerechnet 100 Euro – die letzte Zahlung im Oktober 2020 umfasste nur noch rund 26 Euro, da das Budget schneller als geplant ausgeschöpft war.

Trotz der Probleme galt »Bono Familia« als wichtiger Ansatz, um die Not im Land zu lindern. Als im November 2020 bekannt wurde, dass die Regierung das Programm in 2021 nicht verlängern würde, brachen in Guatemala Proteste aus. Sozialpolitik-Expertin Alejandra Contreras hofft, dass die Regierung doch noch mehr Budget für Sozialhilfe freigibt. Die Datenbank von »Bona Familia« soll zudem Grundstein für ein nationales Register armer Bürger werden – als Grundlage für zukünftige Projekte.

Manche Empfängerinnen von »Bono Familia« haben das Geld auch reinvestiert

Manche Empfängerinnen von »Bono Familia« haben das Geld auch reinvestiert

Foto: RODRIGO MUSSAPP / UNICEF Guatemala

Viele der Geldtransfers sind nur temporär angelegt, obwohl die Folgen der Pandemie längst nicht abgefedert sind. »Die Krise wirft ein Licht auf seit Langem bestehende Lücken in den derzeitigen Sozialschutzsystemen«, warnt Ugo Gentilini , Experte für Sozialhilfe bei der Weltbank.

Einer Analyse  seines Teams zufolge dauerten Corona-Geldtransfers weltweit zwischen März und Dezember 2020 durchschnittlich 3,3 Monate, bei einem Drittel der Programme handelte es sich um Einmalzahlungen – und nur ein Viertel erreichte mehr als ein Drittel der Bevölkerung.

Lernen aus der Pandemie

Dennoch könnten selbst kurze Programme positive Nebeneffekte haben, glauben Experten. Die »Katastrophe« habe die Eingliederung ärmerer Bevölkerungsgruppen ins Finanzsystem vorangetrieben, sagt etwa die Digitalexpertin Moonmoon Shehrin  der NGO »BRAC« in Bangladesch. Auch in Guatemala haben viele indigene Landbewohner sich dank »Bono Familia« zum ersten Mal mit elektronischen Zahlungen vertraut gemacht oder Geld bei einem Automaten gezogen – Sozialprogramme können künftig reibungsloser umgesetzt werden.

Caroline Teti hofft, dass die zunehmende Beliebtheit von Geldtransfers auch die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen vorantreibt. In dem weltweit bislang größten Experiment für ein Grundeinkommen erforscht »GiveDirectly« in Kenia derzeit, ob regelmäßige Zahlungen Menschen langfristig aus der Armut holen können.

Die Empfänger des Grundeinkommens hätten zwar in der Pandemie ebenfalls Geschäfte oder Kunden verloren, beobachtet Teti derzeit. »Aber sie erholen sich schneller wieder.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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