Zwangsmaßnahmen der Regionalregierung Argentiniens autoritäres Coronaregime

Menschen strecken ihre Hände durch die vergitterten Fenster eines Isolationszentrums in der argentinischen Provinz Formosa
Foto: Leo Fernández
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Gegen halb zwei in der Nacht klingelte es an der Tür. Durch ein Fenster sah Laura Rodríguez Blaulicht und Polizeistiefel. Sie hatte Angst, als sie öffnete. Zwei Männer in Ganzkörper-Schutzanzügen standen davor. »Der Covid-Test ihres Mannes war positiv. Sie müssen mitkommen«, sagte man ihr.
Die Familie hatte fünfzehn Minuten, um ihre Sachen zu packen. Rodríguez weckte die Kinder. Der Sohn Augustín, 7, fing an zu weinen. Ihre Tochter Matilda, 9, schrie, als sie den Vater in einen Krankenwagen brachten und davonfuhren. Rodriguez und die Kinder mussten in einen Polizei-Van einsteigen.
Drei Stunden lang fuhr der Wagen durch die Stadt und sammelte Angehörige anderer Familien ein, die mit Coronainfizierten Kontakt gehabt hatten. Dann wurden Rodríguez, 42, und ihre Kinder in einem Zentrum getestet, bevor man sie gegen sechs Uhr morgens zu einer Schule brachte, die man zu einem »Isolations-Center« umfunktioniert hatte. »Als Erstes musste ich eine Erklärung unterschreiben, dass ich auf eigenen Wunsch dort war«, erzählt Rodríguez, die als Psychologin arbeitet, »ich habe unterschrieben, damit die Kinder endlich schlafen können.«

Laura Rodríguez war mit ihren Kindern in einem Isolationslager untergebracht
Foto: Laura RodriguezWas mit Familie Rodríguez aus der Stadt Formosa in Argentinien am 19. Januar 2021 passierte, klingt wie aus einem Horrorfilm. Doch so oder so ähnlich erging es seit April 2020 rund 25.000 Menschen in der argentinischen Provinz. Sie wurden von der Polizei in Quarantänezentren abtransportiert.
Covid-Positive wurden mitunter gemeinsam mit Verdachtsfällen unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen untergebracht. Kinder und Familien schliefen zusammen mit fremden Erwachsenen teilweise in überfüllten Hallen mit Etagenbetten, sogar in Sportstadien und Zeltstädten.
Viele verbrachten dort weit mehr als 14 Tage, über ihre Testergebnisse wurden manche im Unklaren gelassen; viele infizierten sich mutmaßlich dort. Zwar wurden auf gesellschaftlichen und medialen Druck hin die schlimmsten Zentren inzwischen geschlossen und einige der »missbräuchlichen Maßnahmen« aufgeweicht, »aber wir haben es mit einem fortdauernden Problem zu tun«, sagt José Miguel Vivanco, Lateinamerika-Direktor bei Human Rights Watch (HRW).

Quarantänezentrum in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires
Foto: Natacha Pisarenko / APDie ärmliche Provinz Formosa im Norden Argentiniens erschuf mit Beginn der Pandemie eines der strengsten Coronaregime weltweit: Neben Zwangsmaßnahmen wie der rigorosen Abriegelung der Provinz vom Rest des Landes leben die Bürger in einem weitgehend dauerhaften Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen, der mit Polizeigewalt durchgesetzt wird. »Wir sind faktisch seit einem Jahr in Phase eins«, sagt die Radiojournalistin Julieta González, »die Familienbetriebe sind tot. Die Armut ist extrem, nur große Supermarktketten überleben.«
Die Provinzregierung erschuf sogar so etwas wie neue Grenzen: Die Stadt Clorinda an der Grenze zu Paraguay wurde monatelang komplett abgesperrt. Mitunter wurden Menschen sogar Reisen für notwendige medizinische Behandlungen verweigert oder Mütter von ihren neugeborenen Babys getrennt, wenn diese zur medizinischen Versorgung in die Hauptstadt mussten, so berichten Ärzte.
»Chinesisches Vorgehen« der Regionalregierung
Der Politikwissenschaftler Julio Burdman spricht von einem »chinesischen Vorgehen« der Regionalregierung. Diese verteidigt sich mit Verweis auf die geringe Zahl an Coronatoten, angeblich nur 151 seit Beginn der Pandemie. Im gesamten Land starben mehr als 64.000 Menschen. Doch Mediziner aus der Region beteuern, dass die Zahlen aus Formosa manipuliert seien und weitaus höher liegen.
Der Psychologin Rodríguez und ihren beiden Kindern teilte man an jenem Dienstagmorgen im Januar in der umfunktionierten Schule den Raum mit der Nummer 10 zu: vier Betten, ein Päckchen mit Toilettenpapier, Putzmittel. Auf den Hof durften sie nicht; ein Polizist überwachte, dass sie ihr Zimmer nicht unerlaubt verließen. Das Bad mussten sie sich mit 30 weiteren Personen teilen – und selbst putzen. »Es war unfassbar dreckig, die Toiletten liefen über, überall waren Kakerlaken«, sagt Rodríguez. Weder Bad noch Schlafzimmer habe sie absperren können. »Ich habe die Kinder jede Nacht um halb zwölf geduscht. Wir hatten Angst. Ich wusste ja nicht, wer die anderen 30 Personen sind.«

Eine Frau protestiert gegen die strengen Coronamaßnahmen in der Provinz Formosa
Foto: Nathaniel Caceres / APNach drei Tagen erhielten Rodríguez und ihre Kinder ein negatives Testergebnis – doch sie mussten sich weitere zehn Tage isolieren. »Zu Hause in Quarantäne zu gehen war nicht erlaubt«, sagt sie, »aber in dem Zentrum konnten wir nicht bleiben.« Rodríguez zog mit den Kindern in ein Hotel um, bezahlte nicht nur für das Zimmer, sondern auch für die Polizisten, die sie überwachten. »Ich konnte mir diesen teuren Aufenthalt leisten und ich kann mich durchsetzen«, sagt sie. Andere Menschen seien traumatisiert worden und hätten »eine grausame Missachtung ihrer Intimsphäre und ihrer Rechte erlebt«.
Ähnlich sieht das die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie spricht von »willkürlichen Arresten« und berichtet von Menschen , die bis zu 30 Tage oder länger festgehalten wurden. Aufsehen erregte der Fall der schwangeren Zunilda Gómez, die mit ihren drei Kindern in einem Hotelzimmer eingesperrt worden war. Als sie plötzlich anfing zu bluten, reagierte niemand auf ihre Schreie. Schließlich kletterte ihre Tochter aus dem Fenster, um Hilfe zu suchen. Die Mutter erlitt im Krankenhaus eine Fehlgeburt. Ihre Kinder blieben bis zum nächsten Morgen allein in dem Hotelzimmer eingesperrt.

Dieses Isolationszentrum in der argentinischen Provinz Formosa wurde inzwischen geschlossen
Foto: privat»Ich habe meine Patienten begleitet bei ihrer Entscheidung, sich nicht testen zu lassen«, erzählt die Ärztin María Paula Zarza aus der besonders betroffenen Stadt Clorinda, »auch wenn sie Symptome hatten.« Die Patienten hätten nach den Konsequenzen für sich und ihre Familien gefragt. Das Testsystem sei fest in staatlicher Hand. Wenn jemand positiv sei, würde das Ergebnis an die Polizei weitergeleitet. »Wer sich mit Corona infiziert, wird kriminalisiert.«
Auch die Meinungsfreiheit in der Provinz ist eingeschränkt: Journalisten beklagen, dass ihre Berichterstattung unterdrückt wird. Julieta González, die für einen unabhängigen Radiosender arbeitet, hat weder Zutritt zu den Quarantänezentren, noch kann sie Pressekonferenzen der Regierung besuchen. Die 26-Jährige erzählt von Männern auf Motorrädern, die ihr nach Dienstschluss folgen und sie fotografieren. Bei einer Demonstration gegen die Seuchenschutz-Maßnahmen habe die Polizei sie verhaftet. Per Mail und Telefon erhält sie Drohungen: »Wir werden dich infizieren und in einem schwarzen Sack wegtragen.«

Die Journalistin Julieta González bei einer Protestveranstaltung in Formosa
Foto: Julieta GonzalesAm 27. Januar besuchte der Menschenrechtsbeauftragte der Zentralregierung in Buenos Aires die Provinz. Einige besonders desolate Isolationszentren wurden geschlossen, die Quarantäneregeln verändert: Infizierte und Verdachtsfälle werden nun getrennt untergebracht. Wer kleine Kinder hat oder über 60 Jahre alt ist, darf sich zu Hause isolieren. »Allerdings ist die Quarantäne zu Hause nur erlaubt, wenn die Wohnung bestimmten Standards entspricht«, sagt Vivanco von Human Rights Watch, »gerade in den ärmeren Vierteln ist das selten der Fall.« Es würden nach wie vor auch Familien in den Zentren eingesperrt. »Ich glaube nicht, dass die Zentralregierung in Buenos Aires sich besonders dafür interessiert, die Lage in Formosa zu verändern«, so Vivanco.
Der Gouverneur der Provinz Formosa, Gildo Insfrán, regiert seit rund 25 Jahren und gehört zur Peronistischen Partei wie Argentiniens Präsident Alberto Ángel Fernández. »Die Opposition wollte die Vorgänge in Formosa ausnutzen«, erklärt der Politikwissenschaftler Burdman, »das führte zu einer starken Politisierung des Themas.« Die Zentralregierung habe den Gouverneur zwar nicht unterstützen, aber auch nicht an den Pranger stellen wollen.
Zuletzt stiegen die Zahlen der Coronainfektionen in Argentinien wie auf dem gesamten Kontinent stark an, das Land befindet sich auf dem Höhepunkt der zweiten Welle. Präsident Fernández, der von Anfang an auf die Abschottung seines Landes und harte Lockdowns setzte und den man damals als eine Art rationalen Gegenpol zum brasilianischen Jair Bolsonaro feierte, steht inzwischen in der Kritik. »Zuerst sah es aus, als mache Argentinien alles besser als die anderen Länder in der Region«, sagt Politikwissenschaftler Burdman, »aber die Blase platzte schnell.« Die wirtschaftliche Lage wurde immer desaströser, die Bevölkerung unzufriedener.
Auch in Formosa steigen die Fallzahlen derzeit rapide. Die Isolationszentren sind weiterhin in Betrieb. In den vergangenen Tagen starb in einem dieser Zentren eine ältere Frau, die an Diabetes litt und der man laut Nachrichtenseite »Prensa Libre« medizinische Hilfe verweigert hatte. »Sie haben sie aus dem Krankenhaus entlassen und nach einem positiven Covid-Test in das Isolationszentrum gebracht und dort sterben lassen«, sagt die Journalistin González.

Diese Zeltstadt in der argentinischen Provinz Formosa wurde inzwischen geschlossen. Sie diente zur Isolation von Coronainfizierten insbesondere aus indigenen Gemeinden
Foto: privatMenschen würden ihr fast täglich Bilder aus den Zentren schicken. Darauf zu sehen: Matratzen am Boden, eine Schlange in der Dusche, Maden im Essen. Für den SPIEGEL sind diese Bilder nicht überprüfbar. HRW und anderen Menschenrechtsgruppen wurde bis heute kein Zugang zu der Provinz gewährt.
Der Politikwissenschaftler Burdman glaubt, bei dem Vorgehen des Gouverneurs handle es sich um keine perfide Strategie, um unter dem Deckmantel der Pandemiepolitik mehr Macht an sich zu reißen, als vielmehr um »schlechte Entscheidungen, die aus Panik vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems getroffen worden sind«.
Und dennoch, die Regionalregierung habe in ihrer Provinz »einen autoritär-bürokratischen Albtraum erschaffen, der vor allem die Armen trifft«, sagt die Hausärztin Zarza, die in der bis heute weitgehend abgeriegelten Stadt Clorinda vor allem indigene Gemeinden in den ärmsten Vierteln betreute. Sie hat ihren Job im öffentlichen Gesundheitssystem inzwischen aufgegeben und die Provinz verlassen. Sie sagt: »Was der Staat von mir verlangte, war unethisch und widersprach meinen Prinzipien als Ärztin.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.