Hohe Bereitschaft trotz Angstkampagnen Brasiliens Impf-Wunder

Proteste gegen Bolsonaros Coronapolitik in São Paulo
Foto: Cris Faga / NurPhoto via Getty Images
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Brasilien gilt als absolutes Negativbeispiel in Sachen Pandemie-Management. Mehr als 570.000 Menschen sind bereits an dem Virus verstorben. Präsident Jair Bolsonaro verharmloste Corona von Anfang an; eine konsequente Eindämmungsstrategie gab es nie.
Doch was die Impfkampagne betrifft, schlägt sich das Land erstaunlich gut: Inzwischen sind mehr als 60 Prozent der erwachsenen Brasilianer einfach geimpft. In der größten Stadt São Paulo sind es sogar 99 Prozent, ein Spitzenwert auch im internationalen Vergleich. Der südliche Nachbarstaat Mato Grosso do Sul impft längst auch Jugendliche. Im September will das Land mit Booster-Shots beginnen.
Den Erfolg haben die Brasilianerinnen und Brasilianer auch sich selbst zu verdanken: Wie kaum eine andere Bevölkerung vertrauen sie auf Impfungen. Während in den USA und Europa Impfgegner lautstark versuchen, den Erfolg der Kampagnen zu gefährden und sich in Afrika viele Menschen vor dem Impfstoff fürchten, wollen sich laut einer Umfrage 94 Prozent aller Brasilianer eine Covid-Vakzine verabreichen lassen oder haben es schon getan – und das, obwohl ihr Präsident Bolsonaro behauptete, man könne sich dadurch in ein Krokodil verwandeln.

Junge Menschen hoffen auf mehr Freiheit nach der Coronaimpfung. Auch der Party-Hunger trägt zum Impferfolg bei
Foto: ANDRE COELHO / EPA-EFESPIEGEL: Frau Bahia, der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro verharmloste das Coronavirus von Anfang an und verteufelte Impfungen. Trotzdem schreitet die Impfkampagne inzwischen rasch voran, die Menschen wollen die Vakzinen. Wie lässt sich das erklären?
Lígia Bahia: Es ist den Leuten wirklich egal, was Bolsonaro über Impfungen sagt . Sogar seine Anhänger haben sich alle impfen lassen. Sehr beliebt sind hierzulande auch Impf-Selfies. Und junge Leute kommen zur Impfung im Krokodilkostüm, eine Art ironischer Protest. Das Vertrauen in Vakzinen hat in Brasilien eine lange Tradition, die sich trotz der katastrophalen Kommunikation durch den Präsidenten nicht aushebeln lässt.

Lígia Bahia, 1955, ist Medizinerin und Expertin für Gesundheitswissenschaften. Sie unterrichtet an der Universität von Rio de Janeiro und hat in der Vergangenheit staatliche Institutionen in der Gesundheitspolitik beraten. Sie forscht zu Gesundheits- und Sozialsystemen sowie zum Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Gesundheitsvorsorge in Brasilien.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Bahia: Einerseits daran, dass sich viele noch an Zeiten erinnern, in denen es nicht genug Impfstoffe gab. In den Siebzigerjahren etwa starben noch viele Kinder an schweren Formen von Tuberkulose oder Masern. Die dann folgenden Impfkampagnen waren sehr erfolgreich und retteten viele Leben. Das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem wuchs. In Brasilien ist jeder automatisch krankenversichert und damit auch berechtigt, kostenlos eine ganze Reihe an Impfungen zu bekommen. Die Impfungen sind sehr etabliert und beliebt.
SPIEGEL: Eine Bewegung von Impfgegnern gibt es also in Brasilien nicht?
Bahia: Das gab es mal. Es war jedoch weniger eine politisch-ideologische Bewegung, sondern kam aus der Ecke der Homöopathen. Aber sie haben schnell aufgegeben – selbst die Homöopathen sind inzwischen pro Impfung.
SPIEGEL: Brasilien produziert bereits zwei Impfstoffe. Nun soll in São Paulo bald auch noch die Vakzine von Biontech/Pfizer hergestellt werden, wie das Unternehmen bekannt gab. Spielt die Produktion im eigenen Land auch eine Rolle für die Beliebtheit der Impfungen?
Bahia: Die Menschen sind sehr stolz auf die nationalen Institute, die Vakzinen herstellen, also das Butantan-Institut in São Paulo und Fiocruz in Rio de Janeiro. Es ist üblich, dass frisch verheiratete Paare dort hinfahren und sich in Brautkleid und Anzug vor den Gebäuden fotografieren lassen, wie sie das auch bei Sehenswürdigkeiten oder anderen ikonischen Orten machen. Beide Institute produzieren inzwischen Covid-Impfstoff, den chinesischen Sinovac und AstraZeneca.
SPIEGEL: Auch die Infrastruktur für schnelle Impfkampagnen ist vorhanden.
Bahia: Wir können in Brasilien innerhalb weniger Tage Millionen von Menschen impfen. Im Vergleich zu anderen Impfkampagnen verlief die gegen Covid-19 sehr langsam, wegen der anfänglichen Knappheit an Impfstoff. Wir haben schon in wesentlich kürzerer Zeit viel mehr Menschen geimpft. Außerdem gibt es Ungleichheiten. Reiche Staaten wie São Paulo oder die Hauptstadt Brasilia sind deutlich weiter als ärmere Staaten im Norden des Landes wie etwa Roraima oder Amapá.

Ein Kreuz aus roten Rosen liegt am Copacabana-Strand in Rio de Janeiro zum Gedenken an die Opfer der Coronapandemie in Brasilien
Foto: Buda Mendes / Getty ImagesSPIEGEL: Der Impfstoff wird vom Gesundheitsministerium an die einzelnen Staaten gemäß der jeweiligen Einwohnerzahlen und Prioritätsgruppen verteilt. Wie kann es da zu solchen Unterschieden kommen?
Bahia: Einerseits sind die logistischen Herausforderungen im ländlichen Nordosten größer. Es erscheint mir aber so, dass es bei der Verteilung auch Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Einige Staaten haben offenbar mehr bekommen. Anders lässt sich die extrem schnelle Kampagne etwa in São Paulo oder Brasilia schwer erklären. Ein regelrechter politischer Wettbewerb hat eingesetzt. Jeder will der Schnellste sein, allen voran der Gouverneur von São Paulo, João Doria, der auch größere politische Ambitionen hegt.
SPIEGEL: Selbst Bolsonaro musste seine Kommunikation ändern. Statt gegen die Impfung ist er jetzt für Entscheidungsfreiheit. Und er will sich geradezu heldenhaft als allerletzter impfen lassen, um auch niemandem eine Dosis wegzunehmen.
Bahia: Die Menschen haben auf diese Impfung gewartet. Die Mittelschicht hat im Fernsehen gesehen, wie die Leute in den USA oder Israel geimpft wurden. Die Impfungen haben sie dann auch mit Freiheit verbunden. Für junge Menschen spielte der Party-Hunger eine Rolle. Impfen wurde regelrecht »Fashion«. Für die Armen, die weiter zur Arbeit gehen mussten und schreckliche Erfahrungen mit dem Virus gemacht haben, zum Teil mehrere Angehörige verloren haben, war die Impfung auch ersehnt. Für sie ist sie schlicht die einzige Möglichkeit, sich zu schützen.
SPIEGEL: Brasilien hat inzwischen mehr als 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einfach geimpft und rund 27 Prozent vollständig. Was erwarten Sie für die kommenden Monate?
Bahia: Wir sind gerade auf halber Strecke, was das Impfprogramm betrifft. Gleichzeitig ist nun die Delta-Variante hier angekommen, genau im falschen Moment. Sie tauchte zuerst in Rio de Janeiro auf, und wir gehen davon aus, dass sie sich bereits verbreitet und die P1-Variante aus Manaus verdrängen wird. Genaue Daten haben wir nicht. Die Todeszahlen sind nach wie vor hoch hierzulande. Ich bin daher nicht übermäßig optimistisch.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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