Coronakrise in Brasilien Warum Pfizer eine ganze Stadt impfen lassen will

Es ist die erste Pfizer-Studie dieser Art: Der Pharmakonzern will in der brasilianischen Stadt Toledo testen, wie sich das Coronavirus im echten Leben verhält – in einer Bevölkerung, die zu 100 Prozent durchgeimpft ist.
Von Nicola Abé, São Paulo
Coronaimpfung in Brasilien: Versuchslabor für die Welt

Coronaimpfung in Brasilien: Versuchslabor für die Welt

Foto: BRUNA PRADO / AP
Globale Gesellschaft

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Die Stadt Toledo im Südwesten Brasiliens wird zum Versuchslabor für die Welt: Es soll untersucht werden, was passiert, wenn die gesamte Bevölkerung immunisiert ist. Anfang November beginnt das circa einjährige Experiment, von dem sich der Pharmakonzern Pfizer neue Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Dauer des Impfschutzes seiner Vakzinen erhofft – unter realen Lebensbedingungen.

Toledo hat rund 143.000 Einwohner. Impfskepsis gibt es hier kaum. Rund 99 Prozent der Menschen über zwölf Jahre in der Stadt haben bereits eine erste Impfung erhalten, die meisten von ihnen die von Biontech/Pfizer.

Toledo in Brasilien: "Wir beobachten hier bisher so gut wie gar keine schweren Verläufe"

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Toledo Prefeitura

Mit inzwischen mehr als 600.000 Toten ist Brasilien eines der Länder, die von der Pandemie am schwersten getroffen wurden. Präsident Jair Bolsonaro verharmloste das Virus von Anfang an und wetterte gegen Impfungen. Zuletzt warfen ihm brasilianische Senatoren Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor: Monatelang hatte der Präsident sich geweigert, Impfstoffe zu bestellen – obwohl ihm diese von den Herstellern angeboten worden waren.

Das Experiment in Toledo ist nicht die erste Massenstudie dieser Art in Brasilien. In der Stadt Serrana wurden im Winter und Frühling alle Erwachsenen mit der Vakzine des chinesischen Herstellers Sinovac immunisiert. Das Experiment war ein großer Erfolg: Während die Pandemie im Rest Brasiliens wütete, gingen in Serrana die Infektionszahlen, schweren Krankheitsverläufe und Corona-Todesfälle stark zurück. Gabriela Kucharski, Gesundheitssekretärin der Stadt Toledo, hofft nun dank der Biontech/Pfizer-Impfung auf noch bessere Ergebnisse.

Zur Person
Foto: Secom Toledo

Gabriela Kucharski, geboren 1986 in Brasilien, studierte Medizin in Rio Grande und Porto Alegre. Seit 2012 lebt die Kinderärztin in der Stadt Toledo im Südwesten des Landes. Im Januar 2021 trat sie ihren Job als lokale Gesundheitsministerin an. Sie ist stolz darauf, dass Toledo für eine Corona-Impfstudie ausgewählt wurde.

SPIEGEL: Frau Kucharski, Ihre Stadt wurde von dem Pharmakonzern Pfizer für eine Impfstoffstudie ausgewählt. Wie kam es dazu?

Kucharski: Pfizer hat in Brasilien nach einer Stadt gesucht, die sich quasi zu 100 Prozent durchimpfen lässt. Es gab mehrere Bewerber. Sie haben sich für Toledo entschieden. Wir sind die einzige Stadt in einem sich entwickelnden Land, in der diese Art der Forschung von Pfizer durchgeführt wird. Das liegt sicherlich auch daran, wie wir mit der Pandemie umgegangen sind. Wir haben das Virus von Anfang an überwacht und dokumentiert. Wir wussten über den ersten Fall bei uns Bescheid und über das weitere Infektionsgeschehen. In Zusammenarbeit mit der staatlichen Universität hier ist uns diese epidemiologische Kontrolle und Transparenz gelungen.

SPIEGEL: Hat die Pandemie Toledo deswegen auch weniger stark heimgesucht?

Kucharski: Zunächst hatten wir weniger Infektionen und Todesfälle, allerdings änderte sich das mit der P1-Variante im Februar, die auch unsere Stadt schwer getroffen hat. Insgesamt kamen wir jedoch immer noch besser davon als der Rest des Landes.

Ein Jugendlicher wird in der Stadt Toledo geimpft: »Ziel ist es herauszufinden, wie sich das Coronavirus im echten Leben benimmt«

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Foto: Secom Toledo

SPIEGEL: Brasilien hat inzwischen eine Art Kehrtwende geschafft: Es hat beim Impffortschritt stark aufgeholt. Neben der Vakzine von Sinovac und AstraZeneca soll bald auch die von Biontech/Pfizer im Land produziert werden. Wie viele Einwohnerinnen und Einwohner Ihrer Stadt haben sich bereits impfen lassen?

Kucharski: Wir haben bereits rund 99 Prozent der Menschen über zwölf Jahre einfach geimpft und mehr als 60 Prozent zweifach. Medizinisches Personal und Risikogruppen erhalten inzwischen schon Booster-Shots von Pfizer. Anfangs haben wir auch die Vakzinen von Sinovac, AstraZeneca und Johnson & Johnson verimpft. Inzwischen haben wir ganz auf Biontech/Pfizer umgestellt, das rund die Hälfte der Menschen erhalten haben.

SPIEGEL: In Europa hätten die Hersteller Schwierigkeiten, eine solche Impfquote zu erreichen. Wie erklären Sie sich, dass es trotz der politischen Polarisierung in Bezug auf das Coronavirus und die Vakzinen bei Ihnen kaum Impfskepsis gibt?

Kucharski: Die Leute haben sich informiert, und ihnen ist klar, dass der Ausweg aus der Pandemie die Impfung ist. In der Praxis hat sich außerdem schnell gezeigt, wie wirksam sie ist. Mit dem Fortschreiten der Kampagne sind die schweren Fälle deutlich weniger geworden. Das hat dann noch mehr Menschen überzeugt. Seit wir für die Studie ausgewählt wurden, will sich so gut wie jeder bei uns impfen lassen. Die Impfung von Biontech/Pfizer hat eine besonders hohe Glaubwürdigkeit.

SPIEGEL: Es gab bereits zahlreiche Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffs. Was erhofft man sich von dieser Art der Forschung?

Kucharski: Was wir hier machen, geht über die klinischen Studien hinaus. Ziel ist es herauszufinden, wie sich das Coronavirus im echten Leben benimmt – in einer Bevölkerung, die zu 100 Prozent durchgeimpft ist. Unsere Stadt soll ein ganzes Jahr lang beobachtet werden. Die Leute werden normal zur Arbeit gehen, Familientreffen und Großveranstaltungen stattfinden – auch wenn Abstandsregeln und Maskenpflicht zumeist weiterhin gelten. Werden sich neue Virusvarianten entwickeln, die den Impfschutz durchbrechen? Wird es zu schweren Krankheitsverläufen kommen? Wie ist es um die Dauer des Impfschutzes der Vakzinen bestellt? Das sind Fragen, die wir klären wollen.

Ein Demonstrant impft einen Globus bei einem Protest gegen Präsident Bolsonaro in São Paulo

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Foto: CARLA CARNIEL / REUTERS

SPIEGEL: Haben Sie bereits erste Erkenntnisse?

Kucharski: Was wir jetzt schon sagen können: Durch die hohe Impfquote haben die Infektionszahlen und auch die Corona-Todesfälle massiv abgenommen. Auf dem Höhepunkt der Pandemie hatten wir rund 150 Neuinfektionen am Tag. Nun sind wir bei sieben bis zehn. Es gibt zwar auch Impfdurchbrüche, allerdings beobachten wir hier bisher so gut wie gar keine schweren Verläufe.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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