Roma in der Pandemie »Die Mädchen trifft es als Erstes«

Junges Mädchen an einem Kiosk: »Wir brauchen Vorbilder, die jungen Menschen zeigen, was sie erreichen können«
Foto: Ton Koene / VWPics / Redux / laif
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Ganze Stadtteile haben keinen Zugang zu frischem Wasser, Kinderehen nehmen zu, Verschwörungsgeschichten kursieren: Die Lage der Roma, der größten ethnischen Minderheit Europas, ist schwierig – besonders in Bulgarien, besonders in der Pandemie. Das ärmste EU-Land hat Schätzungen zufolge die größte Roma-Population, und viele leben bis heute ohne Warmwasser oder Zugang zum Gesundheitssystem.
In der Krise wuchsen in vielen Ländern zudem die Vorurteile gegen Roma; fehlende Arbeitsmöglichkeiten sowie mangelnde Bildung und Gesundheitsversorgung brachten viele von ihnen in zusätzliche Schwierigkeiten. »Wir drohen eine Generation zu verlieren«, warnt die Gesundheitsexpertin Diliana Dilkova.
Sie beschäftigt sich seit 15 Jahren mit der Situation von Roma , bildet sogenannte Gesundheitsmediatoren aus, die zwischen offiziellen Stellen und Angehörigen von Minderheiten wie den Roma vermitteln sollen. In der Pandemie eine besonders wichtige, aber auch schwierige Aufgabe. Die meisten Mediatorinnen und Mediatoren gehören selbst den Gemeinschaften an, um die sich kümmern.

Diliana Dilkova, geboren 1981, ist bulgarische Gesundheitsexpertin. Die studierte Sozialarbeiterin leitet das National Network of Health Mediators, dem aktuell 260 Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren angehören. Ihre zentrale Aufgabe ist es, Angehörige von Minderheiten wie die Roma im Gesundheitsbereich zu betreuen und die Zusammenarbeit mit Ärzten und Kommunen zu verbessern.
SPIEGEL: Frau Dilkova, Sie und Ihr Team haben vor einigen Jahren dabei geholfen, innerhalb von zwei Monaten 180.000 Roma gegen Masern impfen zu lassen. Helfen Ihnen diese Erfahrungen jetzt in der Pandemie?
Dilkova: Leider nein. Wir kommen zurzeit kaum an die Menschen heran, das bulgarische Impfprogramm läuft insgesamt nur sehr schleppend. Für die meisten Roma ist eine Corona-Impfung bislang in weiter Ferne.
SPIEGEL: Warum sind Roma in der Pandemie besonders betroffen?
Dilkova: Die meisten Familien leben eng beisammen, oft teilen sich mehrere Personen ein Zimmer. Sie sind häufiger chronisch krank, die Skepsis gegenüber Behörden ist groß. Wie viele arme Menschen in Bulgarien haben etwa 90 Prozent der Roma, die wir betreuen, nur informelle Jobs oder arbeiten als Tagelöhner. Sie verloren zu Beginn der Pandemie als Erste ihre Arbeit. Durch stigmatisierende Berichte wurde die Situation weiter verschärft.

Wohnblocks in Plowdiw: »Die Skepsis gegenüber Behörden ist groß«
Foto: Robert B. Fishman / ecomedia / imago imagesSPIEGEL: Inwiefern?
Dilkova: Es gab Gerüchte, Arbeitsmigranten hätten das Virus eingeschleppt und Roma seien besonders oft infiziert. Dafür gibt es keine verlässlichen Quellen. Dennoch wurden etliche Romasiedlungen von der Polizei abgeriegelt. Die Menschen durften ihre Viertel nicht mehr verlassen, kamen ohne gültige Arbeitsverträge auch nicht raus, um zu arbeiten. Und Ärzte weigerten sich, die Roma zu besuchen.
In manchen Vierteln gibt es bis heute kein Wassernetz, weil die Siedlungen informell am Stadtrand entstanden sind. Oft konnten die Menschen hier während der Ausgangssperre nicht einmal mehr zur nächsten Wasserstelle. Sie leiden immer noch Hunger, weil Läden im Viertel nicht mehr beliefert werden. Teilweise überweisen Angehörige aus der Diaspora Geld an die Einzelhändler, damit die Supermärkte die Bewohner wieder versorgen.
SPIEGEL: Wie gehen Sie damit um, dass sich die Menschen in so einer Situation kaum schützen können?
Dilkova: Es ist auch für uns schwierig, weil die Regierung es bislang nicht schafft, die Menschen angemessen aufzuklären. Meine Kolleginnen mussten den Leuten zeigen, wie sie sich ohne Wasser schützen können und warum eine Maske sinnvoll ist. Wir bilden die Mediatoren jetzt auf eigene Kosten weiter, damit sie wenigstens die wichtigsten Informationen zu Corona und den Impfungen vermitteln können. Gleichzeitig ist die existenzielle Not vor Ort teilweise so groß, dass meine Kollegen sagen, Impfungen seien derzeit unser geringstes Problem. Obwohl natürlich klar ist, dass sie ein wichtiger Schutz wären.

Polizisten kontrollieren die Einhaltung der Quarantäne in Sofia: »Die Roma sind leider ein beliebter Sündenbock«
Foto: Jodi Hilton / NurPhoto / Getty ImagesSPIEGEL: Bulgarien hat bislang eine der niedrigsten Impfquoten Europas, wenn es so weitergeht, sind bis Ende des Sommers erst 20 Prozent der Erwachsenen geimpft. Woran liegt das?
Dilkova: Die Lieferungen von AstraZeneca wurden immer wieder verzögert. Gleichzeitig fehlt es aber auch an grundlegenden Informationen über die Impfstoffe und ihre Wirkung, und das Misstrauen ist groß. Die Impfungen wurden jetzt kurzfristig für weitere Gruppen geöffnet, aber davon profitieren vor allem junge Großstadtbewohner, die bereits gut informiert sind.
Hinzu kommt: Wir hatten vor wenigen Wochen Wahlen, das hat vieles überschattet. Mitte März wurden plötzlich die Ausgangsbeschränkungen gelockert, obwohl es keine Inzidenz dafür gab. Und schon im vergangenen Jahr hatten wir oft den Eindruck, dass es eher um Vorwahlkampf als um die Pandemie ging. Auch die Diskriminierung der Roma hängt vermutlich damit zusammen. Die Roma sind leider ein beliebter Sündenbock.
SPIEGEL: Spielen Social-Media-Gerüchte und Verschwörungsgeschichten auch eine Rolle?
Dilkova: Ja, auf jeden Fall. Das Fehlen von klaren Informationen verunsichert alle, auch die Roma. Das Misstrauen gegenüber den Covid-19-Impfungen hat dazu geführt, dass viele Familien jetzt verstärkt auch andere Impfungen ablehnen. Ich habe heute Morgen erst mit meinen Kolleginnen darüber gesprochen. Viele sind verzweifelt. Vor allem in den Dörfern ist es schlimm. Es gibt Gerüchte, die Impfungen wären in Wahrheit eine Sterilisation und würden gezielt unfruchtbar machen. Andere fürchten Krebs. Das sind oft alte Ängste, die jetzt wieder hochkommen.
SPIEGEL: Woher kommt dieses Misstrauen?
Dilkova: Viele Roma haben erfahren, dass sie dem Staat nicht trauen können. Die Familien sind für viele die einzige Konstante im Leben. Diese Mentalität ist tief verankert, sie ist ein Teil der Identität geworden. Vor 100 Jahren gab es das auch in der armen Mehrheitsbevölkerung. Für die jungen Menschen heute ist es aber ein Problem. Vor allem Mädchen und Frauen leiden darunter, dass sie auf ihre Rolle als Mutter reduziert werden.

Junge Braut auf einer Hochzeit (Archivbild): »Die Mädchen trifft es als Erstes«
Foto: Ton Koene / VWPics / Redux/ laifSPIEGEL: Zeigt sich das auch in der Pandemie?
Dilkova: Leider sehr stark. Der Onlineunterricht hat dazu geführt, dass viele Kinder und Jugendliche seit einem Jahr abgeschnitten vom Bildungssystem sind. Anfangs konnten wir noch in einigen Orten Arbeitsblätter aus den Schulen verteilen und später ausgefüllt zurückbringen. Aber seitdem es nur noch am Computer läuft, ist auch das weggebrochen, weil sie keine Laptops haben.
Früher gingen die Kinder und Jugendlichen in die Schule und danach in Jugendtreffs, bevor sie nach Hause sind. Diese Struktur ist völlig weggebrochen, wir drohen eine Generation zu verlieren. Vor allem junge Frauen werden jetzt in ihren Familien zur Hausarbeit herangezogen, unsere Nachmittagsangebote werden wesentlich weniger genutzt. Die Mädchen trifft es als Erstes.
Dort, wo die Not besonders groß ist, werden auch wieder verstärkt Kinderehen arrangiert. Ich kenne Mädchen, die mit 12 oder 13 Jahren verheiratet wurden. Die Familien haben dann eine Sorge weniger. Ein Kind, um das man sich nicht kümmern muss. Doch für die meisten endet damit die Schulzeit. Die Eltern des Bräutigams wollen niemanden im Haus, der den Tag über weg ist und womöglich andere junge Männer trifft. Ohne Schulabschlüsse sind die Betroffenen von den Familien abhängig. In dieser Situation ist es fast zwangsläufig, dass die Mädchen selbst sehr früh Mutter werden. Und erst recht keine Alternativen finden. Es ist ein Teufelskreis.
SPIEGEL: Was müsste passieren, um die Lage zu verbessern?
Dilkova: Wir brauchen Vorbilder, die jungen Menschen zeigen, was sie erreichen können. Seitdem ich diesen Job mache, begleiten wir junge Menschen, die Ärzte oder Wissenschaftler werden wollen. Mehr als 40 haben es geschafft. Das ist unglaublich wichtig, sie werden bewundert und helfen uns in der Pandemie, die Bedeutung von Impfungen zu erklären.
Auch die Diaspora ist sehr wichtig. Diejenigen, die zur Arbeit ins Ausland gehen, kommen mit neuen Eindrücken zurück. Viele Roma erleben im Ausland zum ersten Mal, wie ein Leben in der Mehrheitsgesellschaft aussieht, ohne Gettoisierung und direkte Stigmatisierung. Wenn sie zurückkommen, bringen sie neue Vorstellungen mit und sind weltgewandter. Wenn ich heute durch Romasiedlungen gehe, sehe ich oft direkt, wer im Ausland war. Die Leute bauen sich auf dem Balkon ein Stück Deutschland nach, sie hängen Blumentöpfe auf, trennen Müll oder renovieren die Fassade. Die Pandemie bringt diesen Austausch in Gefahr. Aber ich hoffe, dass es ihn auch in Zukunft geben wird.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.