Corona-Gefahr in Idlib "Bitte vergesst die Syrer nicht"

Vertriebenes Mädchen in der Provinz Idlib: Ein bis zwei Ärzte auf 10.000 Menschen
Foto: UMIT BEKTAS/ REUTERSHilfsorganisationen befürchten, dass ein Ausbruch des Coronavirus Hunderttausende Menschen im Nordwesten Syriens mit dem Tod bedroht. In der Region um die syrische Stadt Idlib versammeln sich seit Dezember nach Schätzungen der Uno rund eine Million Menschen, die vor den Angriffen durch das syrische Regime und Russland geflohen sind.
Die Lage in den Camps entlang der geschlossenen Grenze zur Türkei war schon vor der Bedrohung durch Covid-19 dramatisch. Jetzt spitzt sich die Lage zu.
SPIEGEL: Der syrischen Regierung zufolge gibt es in Syrien einen einzigen Corona-Fall, obwohl alle Nachbarländer viel massiver betroffen sind. Glauben Sie das?
Al-Dairi: Wie in jedem Land, das von einem Diktator regiert wird, werden hier Tatsachen geleugnet. Die Herrschenden denken, es ist eine Schande, das Coronavirus im Land zu haben. Der Gesundheitsminister in Damaskus sagte vor Kurzem, es gebe Covid-19 in Syrien, am nächsten Tag ruderte er zurück. Aber natürlich gibt es das Coronavirus in Syrien. Es kommen etliche Besucher aus Iran und dort ist die Situation bekanntlich dramatisch.
SPIEGEL: Sie arbeiten mit ihrer Organisation in der Provinz Idlib, in der drei Millionen Menschen leben, davon eine Million Geflüchtete. Laut Welthungerhilfe gibt es im gesamten Nordwesten Syriens ganze 50 Beatmungsgeräte. Die Bedingungen, unter denen viele ausharren, sind katastrophal. Wie groß ist die Gefahr durch Covid-19?
Al-Dairi: In dem Moment, in dem das Virus die Camps trifft, schlittern wir in eine Katastrophe. Wir haben extrem wenige Krankenhäuser im Nordwesten Syriens. Die wenigen, die wir haben, konzentrieren sich auf Entbindungen und auf die Versorgung von Kindern. Andere wenige haben ihren Schwerpunkt auf Chirurgie gelegt. In der Provinz Idlib gibt es im Schnitt ein bis höchstens zwei Ärzte, sechs Krankenschwestern und eine Hebamme auf 10.000 Menschen. Und weil wir seit neun Jahren ein Kriegsgebiet sind, fehlen uns Spezialisten, die sich mit der Epidemie auskennen.
SPIEGEL: Viele Geflohene leben in verlassenen Gebäuden oder mit bis zu zwölf Leuten auf schlammigem Grund in einem Zelt. Hände waschen oder soziale Distanzierung sind nicht möglich. Wie gut sind die Menschen an der Grenze gegen Covid-19 geschützt?
Fadi al-Dairi von der britischen NGO "Hand in Hand"
Al-Dairi: Gar nicht. Ich bin sicher, dass das Virus dabei ist, sich auszubreiten. Wir haben bisher keine Bestätigung, weil wir nicht testen können und es dazu noch keine Möglichkeit gibt. Aber stellen Sie sich vor, wie provisorisch die Geflohenen leben. Fließendes Wasser gibt es im Nordwesten nur in bestimmten Städten und Dörfern. Die Mehrheit der Menschen ist auf Wasser angewiesen, das von Lkw geliefert wird. Die Geflohenen teilen sich die wenigen Duschen, Waschräume und Toiletten. Alle fassen den gleichen Wasserhahn an.
SPIEGEL: Viele Experten beklagen, dass internationale Hilfe nur schleppend bis gar nicht anläuft. Was wäre nötig, um die Ausbreitung von Covid-19 jetzt einzudämmen?
Al-Dairi: Wir haben seit Auftreten der ersten Fälle natürlich all unsere Aktivitäten in den Camps reduziert oder eingeschränkt. Gut ist auch, dass die Grenze zu den von der Regierung kontrollierten Gebieten in Nordsyrien geschlossen ist. Wir haben also praktisch nur eine Grenze mit der Türkei. Und dann gibt es eine Taskforce gegen Covid-19. "Hand in Hand" ist Partner der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und als solche zuständig für die Implementierung des Pandemie-Plans der WHO im Nordwesten von Syrien.
"Bitte vergesst die Syrer nicht"
SPIEGEL: Ärzte schätzen, dass sich eine Million Menschen in der Provinz infizieren und 100.000 bis 120.000 sterben könnten. 10.000 Menschen könnten eine Beatmung benötigen. Wie sieht dieser Pandemie-Plan der WHO aus?
Al-Dairi: Wir planen gemeinsam mit der WHO im Nordwesten des Landes Isolierungszentren in den Gemeinden aufzubauen, in denen sich bald um jene gekümmert werden soll, die mit Covid-19 infiziert sind oder bei denen es einen Verdacht gibt. Es sollen Schutzräume mit Betten entstehen, in denen Kranke mit mildem Verlauf versorgt werden und in denen es auch Inkubatoren gibt für jene, die Sauerstoff brauchen. Meine Organisation soll diese Zentren leiten. Aber wir sind noch in einem frühen Diskussionsstadium und müssen sehen, ob wir noch zusätzliche Partner brauchen. Die Maßnahme ist bis Ende Juni angesetzt.
SPIEGEL: Die Provinz Idlib ist das letzte Rebellengebiet in Syrien. Die Infrastruktur in Idlib ist auch deswegen so dünn, weil Krankenhäuser zur Zielscheibe der russischen Luftwaffe werden. Seit Dezember wurden mehr als 84 medizinische Einrichtungen zerstört oder mussten schließen.
Al-Dairi: Das syrische Regime und Russland bombardieren Krankenhäuser gezielt, um Druck auf die Bevölkerung auszuüben und die Opposition zu schwächen. Diese Angriffe finden statt, obwohl wir die Standorte der Einrichtungen teilen. Wenn jemand aus der Gemeinde medizinische Hilfe braucht und das Krankenhaus an seinem Wohnort zerstört ist, muss er zwei Stunden bis zur nächsten Einrichtung fahren und stirbt, bevor er sein Ziel erreicht. Auf der anderen Seite haben wir als Helfer Probleme, eine Krankenversorgung an einem Ort einzurichten, weil Zivilisten und bewaffnete Gruppen uns nicht in ihrer Nähe haben wollen. Die Bevölkerung steht vor einem Dilemma. Den Krankenhäusern in dieser Situation noch mehr Patienten zu schicken, wäre fatal.
SPIEGEL: Sie waren vor wenigen Wochen noch selbst in Idlib. Wie geht es den Menschen dort? Was hören Sie von Ihren Kollegen, die noch dort arbeiten?
Al-Dairi: Die Ungewissheit an der Grenze ist sehr groß. Jeden Tag stellt sich die Frage, ob es einen Deal mit dem syrischen Regime geben wird oder ob es weiter vorrückt und die Geflüchteten bedroht. Würden die Menschen in ihre Heimatorte zurückkehren, würden sie dort mit Sicherheit vom Geheimdienst verhaftet und gefoltert. Das ist also keine Option. In die Türkei können sie auch nicht, weil das Land schon vier bis fünf Millionen Syrer aufgenommen hat. Und angesichts des sich ausbreitenden Virus sind sie hilflos. Genau wie wir.
SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass die Weltgemeinschaft Syrien vergisst?
Al-Dairi: Jedes Land ist durch diesen Ausbruch des Virus sehr mit seinen eigenen, nationalen Angelegenheiten beschäftigt. Wir sagen nur: Bitte vergesst die Syrer nicht, die innerhalb Syriens gefangen sind. Viele Bürger in Deutschland, in Großbritannien oder anderen Ländern horten jetzt Lebensmittel. Vielleicht können die Menschen auf dieser Seite der Welt den Druck jetzt besser verstehen, der auf vielen Flüchtlingen lastet.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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