Corona-Pandemie In Israel rollt die zweite Welle an

Israel hatte das Coronavirus fast besiegt - nun hat das Land jeden Tag Hunderte Neuinfektionen. Wie konnte das passieren?
Ein Mund-Nasen-Schutz am Strand von Tel Aviv

Ein Mund-Nasen-Schutz am Strand von Tel Aviv

Foto: Oded Balilty/ dpa

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu klang ernst, als er am Donnerstag vor die Presse trat. Die Bevölkerung müsse ihr "Verhalten ändern", sagte Netanyahu in strengem Ton. Wenn nicht, müsse das Land zurück in den Lockdown

Israel galt als eines der Länder, die das Coronavirus vorbildlich bekämpft und so beinahe ausgerottet hatten. Schon im März schloss es seine Grenzen, fuhr die Wirtschaft herunter und schränkte die Bewegungsfreiheit ein. Zeitweise durften Israelis sich maximal 100 Meter von ihren Häusern entfernen. Die strikten Maßnahmen drückten die Corona-Infektionen: Im Mai steckten sich pro Tag nur noch fünf Menschen neu mit dem Virus an. Es galt quasi als besiegt, Netanyahu sprach von einer "großen Erfolgsgeschichte". 

Die zweite Welle rollt auf Israel zu

Doch dann öffnete sich Israel wieder. Zusammenkünfte wurden erlaubt, die Wirtschaft nahm den Betrieb auf. Mit jedem Verbot, das fiel, stieg die Zahl der Fälle.

Am Freitag verzeichnete Israel 350 Neuinfektionen. Das sind fast halb so viele wie in Deutschland, obwohl die Bundesrepublik zehn Mal so viele Einwohner hat.

"Die Menschen hatten das Gefühl: Es ist vorbei."

Professor Cyrille Cohen, Vizedekan der Fakultät für Biowissenschaften der Bar-Ilan-Universität

Experten sorgen sich, dass das Gesundheitssystem bald überlastet sein könnte. Die zweite Welle, von der Deutschland hofft, dass sie nie kommen wird - sie rollt gerade auf Israel zu.  

Dabei setzt das Land alle möglichen Mittel ein, um das Virus zu bekämpfen. Selbst der Inlandsgeheimdienst Shin Bet beteiligte sich an der Eindämmung. Was hat Israel falsch gemacht?

"Zuerst einmal haben wir vieles richtig gemacht", sagt Prof. Cyrille Cohen, Vizedekan der Fakultät für Biowissenschaften der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv. "Wir haben den einzigen Flughafen geschlossen und die Menschen früh gebeten, zu Hause zu bleiben. Das hat alles gut geholfen."

Doch dann öffnete sich das Land im Eiltempo. Schon bald war von Corona nichts mehr zu spüren. "Die Menschen hatten das Gefühl: Es ist vorbei", sagt Cohen. "Sie vergaßen, dass sie das Virus ja immer noch weitergeben können."

Wochenlang hatten die Israelis zu Hause gesessen: Selbst an Pessach, einem Familienfest vergleichbar mit Weihnachten, waren Besuche verboten. Nun holten viele nach, was sie verpasst hatten. Die niedrigen Fallzahlen wiegten das Land in Sicherheit.

Mundschutzpflicht, Abstandsregelungen - all das schien inzwischen nicht mehr nötig. "Was wir brauchen, ist mehr Disziplin", sagt Cohen. "Davon haben wir weniger als andere Länder."

Offiziell herrscht in Israel zwar an vielen Orten eine Mundschutzpflicht, die Bürger sind aufgerufen, Abstand voneinander zu halten. Doch ein Regelbruch wird selten bestraft. Viele Israelis steckten sich nach der Öffnung bei privaten Treffen an.

Schulen als Corona-Hotspots

Als Infektionsherde erwiesen sich außerdem Schulen, die zusammen mit der Wirtschaft wieder aufmachten. "Sie wurden schnell zu Clustern", sagt Cohen. Mehr als vierzig Prozent der neuen Corona-Fälle seien Kinder, die sich im Unterricht angesteckt hätten. Inzwischen sind etwa 200 von 5000 Schulen im Land wieder geschlossen, weil sich dort Hotspots gebildet hatten. 

Was Cohen und den anderen Experten Hoffnung macht: Trotz der vielen neuen Fälle seien die Todeszahlen kaum gestiegen. 303 Menschen sind in Israel bislang an dem Virus gestorben. Weil die Bevölkerung so jung ist, erholen sich viele Erkrankte schnell. "In Belgien leben zum Beispiel ähnlich viele Menschen, doch die Anzahl der Toten dort ist dreißigmal höher", sagt Cohen. Auch würden in Israel aktuell mehr Menschen ohne Symptome getestet und deshalb mehr Fälle entdeckt.

Das erkläre zum Teil die hohen Infektionszahlen, sei aber kein Grund zur Entwarnung, sagt Cohen. 32 Menschen werden im Moment in Israel beatmet, mehr als 250 dürfen es nicht werden. "Das hält unser Gesundheitssystem nicht aus."

Was können andere Länder von Israels Umgang mit Corona lernen? "Nicht zu schnell öffnen", sagt Cohen. "Und nicht zu optimistisch sein." Es dauere, bis sich die Infektionen in der Statistik niederschlügen. "Heute können die Zahlen niedrig sein – und in zwei Wochen schon hoch."

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Genauso wichtig sei es, dass die Bürger sich an die Hygieneregeln halten. "Eine Maske senkt das Infektionsrisiko, genau wie Abstand und Händewaschen", sagt Cohen. Die Versuchung, auf diese Dinge zu verzichten, ist groß. Doch dann seien viele Mühen umsonst gewesen.

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