Gewalt gegen Frauen in Mexiko Das Epizentrum des Schmerzes

Eine Frau läuft durch die Innenstadt der Grenzstadt Ciudad Juárez, in der immer wieder Frauen entführt werden. In der Coronakrise ist das Zentrum verwaist.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGEL
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In der Frontseite des Fraueninstituts der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez klaffen Einschusslöcher. Dabei wollte Verónica Corchado, die Leiterin des Instituto Municipal de las Mujeres, hier eine Insel der Sicherheit inmitten der Gewalt schaffen - doch dann geriet das Institut unter Beschuss. Die Täter, drei junge Männer, griffen im Februar an, als Polizisten, Experten des Frauenzentrums, NGOs und Straßenverkäufer gerade zusammensaßen, um einen Sicherheitsplan für das Stadtzentrum zu entwickeln. Die Schützen waren im Auftrag der Drogenbande La Empresa unterwegs.
Ihre Salven ließen Scheiben zersplittern, eine Kugel schlug bis in die Toilette durch. Corchado und ihre Mitarbeiter, Frauen und Kinder mussten in den Büros in Deckung gehen, bis die Kriminellen sich zurückzogen. "Es war reines Glück, dass niemand verletzt wurde", sagt die 50-Jährige aus Ciudad Juárez.

Im Februar wurde das Fraueninstitut von Gangmitgliedern attackiert. Die Einschusslöcher in der Fassade sind bis heute zu sehen.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGELJuárez ist zwischen Gangs und Kartellen umkämpft. Mehrere Jahre in Folge hatte Juárez die höchste Mordrate der Welt, und natürlich ist auch Gewalt gegen Frauen, sind Tötungen und Vergewaltigungen allgegenwärtig. Das gefährlichste Viertel ist die verfallene Altstadt, dort, wo das Fraueninstitut seinen Sitz hat: "Das historische Zentrum ist seit Langem das Epizentrum des Schmerzes", sagt Verónica Corchado. "Und es fehlt hier an allem, um dem etwas entgegenzusetzen." Die Coronakrise verschärft das Gewaltproblem: Ihr Zuhause bietet vielen Frauen keine Sicherheit, sondern verwandelt sich dank eifersüchtiger, brutaler Partner oft in ein tödliches Gefängnis. Der Beobachtungsstelle Observatorio Ciudadano de Justicia en Chihuahua zufolge wurden in Juárez seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie in der Stadt seit Mitte März bereits 17 Frauen ermordet.

In der Coronakrise muss Verónica Corchado, die Leiterin des Fraueninstitutes in Juárez, verstärkt gegen die zunehmende häusliche Gewalt kämpfen.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGELEntführt, missbraucht, ermordet
Der Drogenkrieg hat verfallene Fassaden, verrammelte Bars und leerstehende Häuser hinterlassen. Im Zentrum sind nur die Armen geblieben, Dealer, und das heruntergekommene Rotlichtviertel direkt am Grenzübergang nach Texas. Vor der Coronakrise durchquerten noch täglich Tausende von Menschen die Innenstadt, um zur Arbeit oder zur Schule über die Grenze in die texanische Zwillingsstadt El Paso zu laufen - und immer wieder wurden aus dem Zentrum, diesem gesetzlosen Niemandsland, Mädchen und Frauen entführt, deren Leichen dann mit Spuren von Folter und Missbrauch irgendwo am Rand der Stadt herumlagen.

In der Coronakrise ist das Zentrum leerer als sonst, dennoch finden weiter Übergriffe auf Frauen statt - auch in deren Zuhause. Wandbilder erinnern an Frauen, die entführt oder getötet wurden – wie Janet Paola Soto Betancourt, die 2011 aus dem Zentrum verschwand.
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Notrufsäulen sollen Frauen, die sich bedroht fühlen, helfen - sie können so sofort die Polizei alarmieren.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGELVor dem Institut hat Verónica Corchado eine Notrufsäule aufstellen lassen. Sie ist beleuchtet, hat Internet, Passantinnen können hier ihr Handy aufladen - und im Notfall einen Panikknopf drücken, der sie direkt mit der Polizei verbindet. Auch wenn der Grenzverkehr in der Coronakrise fast zum Erliegen gekommen ist, das Zentrum leerer ist als sonst, reißen die Übergriffe nicht ab - die Gewalt hat sich von der Straße stärker in die Wohnungen verlagert.
Das Dutzend Anwälte, Sozialarbeiter und Psychologen des Fraueninstituts betreibt drei Hotlines für bedrohte Frauen. "Seit dem Ausbruch des Virus sind die Anrufe wegen häuslicher Gewalt um 20 Prozent gestiegen", beobachtet Corchado. "Ich glaube, das Phänomen ist aber viel größer - die Betroffenen brauchen Zeit, bis sie sich melden und Hilfe suchen."
Die Pandemie trifft die Menschen in Ciudad Juárez doppelt hart: Viele Familien leben beengt, Fabrikarbeiter oder schwarz Beschäftigte sind die Verwundbarsten, sie verlieren zuerst ihren Job. "Wir leben in dieser Stadt ohnehin mit einer ständigen Angst um unser Leben - mit dem Coronavirus kommt eine weitere Möglichkeit dazu, zu sterben", sagt Verónica Corchado.

In der Coronakrise können Frauen nicht mehr zur Beratung kommen - die Mitarbeiter unterstützen sie aber telefonisch und virtuell.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGEL"Wie Frauen die Coronakrise erleben und überleben" heißt die jüngste digitale Initiative der Institutsmitarbeiter. In sozialen Netzwerken verbreiten sie Checklisten, die dabei helfen, sexuelle Übergriffe und andere Gewalttaten anzuzeigen. Per Facebook-Live klären sie über Angebote auf und chatten mit Betroffenen. Die Gerichte sind zwar derzeit geschlossen, Experten beraten aber online in juristischen Fragen, etwa beim Streit um Unterhaltszahlungen. Auch virtuelle Gruppentherapien mit vier bis fünf Teilnehmerinnen sollen bald beginnen.
Therapie am Telefon
Frauen, die sich bereits in Therapie befinden, werden telefonisch weiterbetreut. Jede Woche finden etwa 30 bis 45 solcher Telefonate statt. Ihre Dauer hängt davon ab, wie lange die Frauen sprechen können - in der Corona-Quarantäne sind viele selten allein, haben andauernd ihren Partner im Nacken. "Wir sind sehr flexibel", sagt Corchado. "Manche lassen sich anrufen, wenn sie gerade im Auto sind oder fünf Minuten Zeit auf dem Weg zum Einkaufen haben, oder sie lassen sich auf den Nummern von Freundinnen oder im Haus ihrer Mutter anrufen."
Für Norma (Name geändert) ist ihre wöchentliche Telefontherapie das Einzige, was ihr Halt gibt: "Im Institut hatte ich einen Ort, an dem ich mich frei äußern konnte, und ich habe mich besser gefühlt als zu Hause", sagt die 52-Jährige. "Ich bin meinem Psychologen sehr dankbar, dass er sich die Zeit nimmt, er mir zuhört - ich fühle mich beschützt."

Frauen in Gewaltbeziehungen sehen oft keinen Ausweg - auch, weil viele finanziell von ihren Partnern abhängig sind.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGELIn ihrer Wohnung hat sie keine Privatsphäre, sie muss sich um ihre Tochter kümmern, die schwer psychisch erkrankt ist und sich selbst verletzt. "Was mir am meisten wehtut ist, dass ich nicht weinen oder mich beschweren kann, weil es meiner Tochter sonst schlechter geht", sagt Norma. Ihr Mann sei ein eifersüchtiger Macho, er wolle alles darüber wissen, was sie in der Therapie bespreche. In der Coronakrise würde er sie 24 Stunden am Tag kontrollieren - "Und mein Mann genießt es, uns zu nerven."
Ihren Job als Stylistin kann sie nicht ausüben, weil er sie nicht arbeiten gehen lässt. Jeden Peso, den sie ausgeben will, muss sie ihm vorrechnen. "Wir sind seit 22 Jahren verheiratet, und es sind einfach nur 22 Jahre Schmerz", sagt Norma. Einen Ausweg sieht sie nicht. "Ich erlebe wirtschaftliche, psychologische, sexuelle, verbale und häusliche Gewalt", sagt sie. "Ich habe Depressionen, Angst- und Panikattacken."
Ein Plan für ein anderes Leben
Viele Frauen, die Hilfe suchen, könnten sich Verónica Corchado zufolge kein anderes Leben vorstellen, sie seien wie paralysiert, würden Angst und Gewalt einfach weiter ertragen. "Viele haben keinen Plan, wissen nicht, was sie morgen machen sollen", sagt sie. "Es ist wichtig, dass sie verstehen, warum sie so feststecken und dass ihnen bewusst wird, was los ist - vielleicht können sie dann in einigen Monaten darüber nachdenken, sich zu trennen."
Die Mitarbeiter des Instituts versuchen mit den Frauen herauszufinden, welche Fähigkeiten sie haben, und wie sie ihr Leben verändern könnten. "Es ist wichtig, dass man sich irgendwann nicht mehr als Opfer sieht, sondern als unabhängig, sonst bringt einen das in eine Schockstarre", sagt Corchado.
Sie ist selbst in einem der Armenviertel aufgewachsen, die von Ciudad Juárez aus in die Wüste wuchern, in denen dem Drogenkrieg besonders viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Ihr Vater war Alkoholiker, prügelte. Die Mutter trennte sich von ihm, und unterstützte später auch andere Frauen dabei, sich gegen Gewalt zu wehren. Das Beispiel ihrer Mutter machte Verónica Corchado zur Frauenrechtlerin. Sie gründete Selbsthilfegruppen, protestierte gegen Frauenmorde. Eines Tages in Ciudad Juárez das Institut zu gründen, war ihr großes Ziel. Sie leitet es seit 2016.
Die Angst bleibt
Im vergangenen Jahr haben 1300 Frauen Hilfe beim Fraueninstitut gesucht, Frauen verschiedener Altersgruppen und Hintergründe - Fabrikarbeiterinnen waren aber besonders häufig vertreten. Sie schaffen es oft nur mit Unterstützung des Instituts, brutale Beziehungen zu verlassen, sich scheiden zu lassen, oder vor Gericht das Sorgerecht für ihre Kinder zu erkämpfen - wie die 23-jährige Jackelyn, die sich vor vier Monaten von ihrem Freund getrennt hat.
"Als ich gegangen bin, habe ich nur die Kinder mitgenommen", sagt sie. "Ich habe nichts mehr, wir wohnen bei einer Tante, meine Kleider sind geliehen, die Kinder haben nicht mal Spielzeug." Ihr Smartphone hat ihr Freund zerstört, damit sie nicht mehr mit Freunden sprechen kann.

Das Fraueninstitut hilft Frauen, Gewaltbeziehungen zu verlassen - bevor sie tödlich enden.
Foto: Alicia Araís Fernández/ DER SPIEGELIhr Freund sei aggressiv geworden, als sie angefangen habe, in einer Fabrik zu arbeiten - er war eifersüchtig auf ihre männlichen Vorgesetzten. Erst betrank er sich, dann schlug er zu, auch vor dem zweijährigen Sohn und der siebenjährigen Tochter. "Wenn ich mich verteidigt habe, wurde seine Reaktion immer schlimmer", sagt Jackelyn. Sie zog aus, weil sie nicht wollte, dass die Kinder mit der Gewalt aufwachsen.
Die Angst bleibt - ihr Exfreund weiß, wo sie wohnt. Vor Kurzem stand er vor der Tür und beschimpfte sie. Er ging erst, als sie die Polizei rief. "Viele meiner Freundinnen haben Angst vor ihren Männern", sagt Jackelyn. "Ich glaube, dass die Gewalt hier auch durch Drogen und den Drogenhandel so extrem ist - und die Männer sind Machos, viele halten es für normal, dass sie bestimmen und auch, dass sie zuschlagen." Wenn die Coronakrise vorbei ist, will sie ihren Schulabschluss nachholen, einen Job suchen - um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.
Verónica Corchado hat viele Ideen, wie sich die Situation im Zentrum langfristig verbessern ließe. Sie kämpft für eine bessere Beleuchtung, gepflasterte Straßen, überwachte öffentliche Toiletten, mehr und besser ausgebildete Polizisten. Doch der Sicherheitsplan für das Zentrum wurde aufgrund der Coronakrise erst mal auf Eis gelegt - selbst die Renovierung des Gebäudes nach der Attacke muss warten, gerade einmal die zerschossenen Scheiben wurden ausgetauscht. Zusammen mit Freunden will Corchado die Schusslöcher in der Fassade bemalen, die Einschläge in Kunstwerke verwandeln.