New York im Frühling. Nach dem tödlichen Corona-Jahr erwacht in der Millionenmetropole wieder das Leben. Doch wenn Jennifer Murphy durch ihre Nachbarschaft in Brooklyn spaziert, kommen die Bilder aus der ersten Pandemie-Welle alle wieder hoch.
Jennifer Murphy, ehrenamtliche Rettungssanitäterin
»Das einzige Geräusch in der Stadt waren die Sirenen von Krankenwagen – ohne Pause, Tag und Nacht. Es war furchtbar. Ein Albtraum. Wir hatten Angst. Die Patienten hatten Angst. Die Angehörigen waren verzweifelt, weil sie nicht im Rettungswagen mitfahren durften. Es war wirklich ein Albtraum.«
Jennifer Murphy ist hauptberuflich Ermittlerin in Versicherungsfragen, aber seit einigen Jahren arbeitet die 45-Jährige zweimal wöchentlich als Rettungssanitäterin in New York: ehrenamtlich, also ohne Bezahlung. Sie schob selbst dann weiter Schichten, als die Pandemie ausbrach.
Im Frühjahr 2020 war New York ein Hotspot der Pandemie – in keiner anderen Stadt auf der Welt starben mehr Menschen an Covid-19 als hier, teilweise bis zu 1000 am Tag.
Jennifer Murphy, ehrenamtliche Rettungssanitäterin
»Das Schlimmste war, dass wir das Leid der Patienten nicht lindern konnten. Normalerweise fahren wir mit dem Rettungswagen zu jemandem hin, bringen den Patienten ins Krankenhaus und das war’s. Ein kurzer Einsatz. Aber man hatte danach immer das Gefühl, dass man die Patienten damit in bessere Hände gegeben hat. In der Pandemie war es andersherum. Wir hatten das Gefühl, wenn wir den Patienten ins Krankenhaus bringen, dann ist er am Ende schlechter dran als vorher.«
Die Bilder aus den überfüllten Krankenhäusern gingen um die ganze Welt. An vorderster Front: Sanitäter, Ärztinnen und Pflegepersonal – teilweise nur mangelhaft mit Schutzkleidung ausgestattet, täglich mit dem Tod konfrontiert.
Murphy begann nach jeder Schicht Tagebuch zu führen. Sie spürte, wie sehr es ihr dabei half, ihre Eindrücke zu verarbeiten. Daraus ist nun ein Buch entstanden.
Auszug aus »First Responder: Life, Death, and Love on New York City's Frontlines: A Memoir«
»Das war das Schlimmste am Virus: Neben diesem Mann zu stehen, der gerade jemanden verliert. Und ich nahm seinen Vater mit, den er so sehr hatte schützen wollen. Aber das war unsere Aufgabe als Sanitäter: Wir mussten in die Häuser gehen und den Menschen ihre Liebsten wegnehmen.«
Jennifer Murphy, ehrenamtliche Rettungssanitäterin
»Ich glaube, es half mir, mich zu organisieren und zu strukturieren. Es gab mir das Gefühl, dass alles, was ich erlebt hatte, jemand anderem hilft. Aber dafür musste ich es alles noch einmal durchleben. Man fährt also auf einem Rettungswagen mit und macht seine Erfahrungen. Aber damit der Leser alles nachfühlen kann, muss man es beim Schreiben noch einmal durchleben. Ich glaube einerseits, dass mich das Buch gerettet hat, weil ich dadurch meine Geschichte erzählen konnte. Andererseits waren viele Erlebnisse wirklich toxisch. In den meisten Nächten habe ich beim Schreiben geweint.«
Murphy fand einen Weg, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Anderen gelang das nicht. Die 49-jährige Lorna Breen, eine erfahrene Oberärztin einer Notaufnahme in Manhattan beging im April 2020 Suizid. Die Nachricht von ihrem Tod sorgte für Bestürzung und war landesweit Thema.
Lorna Breens Tod traf ihre Angehörigen völlig unvorbereitet.
Corey Feist, Lorna Breens Schwager
»Lorna hatte Ehrgeiz, sie wollte schon immer Ärztin werden und hatte ihr gesamtes Leben darauf ausgerichtet. Wenn sie nicht gearbeitet hat, fuhr sie Snowboard oder reiste, um ein neues Land zu entdecken oder besuchte ihre acht Nichten und Neffen. Sie liebte das Leben und versuchte immer, das Beste draus zu machen.«
Mitte März infizierte sich Breen selbst mit dem Coronavirus. Als sie nach zwei Wochen genesen zur Arbeit zurückkehrte, hatte sich die Situation im Krankenhaus dramatisch verschlechtert.
Corey Feist, Lorna Breens Schwager
»Sie war überfordert von so viel Tod und Sterben. So viele Menschen starben im Krankenhaus, während sie auf ihre Behandlung warteten. Draußen sah sie Schlangen von Rettungswagen – das hat sie so sehr überwältigt, sie konnte es nicht verarbeiten.«
Außerdem hatte Breen Angst davor, sich professionelle Hilfe zu suchen. Denn in vielen US-Bundesstaaten müssen Ärzte ihrem Arbeitgeber Auskunft darüber erstatten.
Corey Feist, Lorna Breens Schwager
»Sie hatte riesige Angst, dass eine psychologische Behandlung ihrer Karriere schaden könnte. Sie fürchtete, ihre Arbeit zu verlieren und dass sogar ihre Lizenz als Ärztin auf dem Spiel stünde. Und sie hatte Angst, dass es ihrem Ruf schaden und den Respekt ihrer Kollegen verlieren würde, wenn sie sich Hilfe suche.«
Stress, Überarbeitung und große Verantwortung: damit kämpfen Angestellte im Gesundheitswesen immer wieder. Im Schnitt begehen in den USA 400 Ärztinnen und Ärzte jedes Jahr Suizid.
Und während der Corona-Pandemie ist die Arbeitsbelastung noch gestiegen. Laut einer Studie des Mount Sinai Krankenhauses in New York litten im Frühjahr 2020 40 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte in der Stadt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depressionen oder Angstzuständen.
Lorna Breens Angehörige setzen sich nun dafür ein, dass mehr für die psychische Gesundheit dieser Berufsgruppe getan wird. Mit einer Stiftung kämpfen sie für mehr Angebote zur Burnout- und Suizidprävention im Gesundheitswesen.
Corey Feist, Lorna Breens Schwager
»Unser Ziel ist es, Überlastung zu verringern und die Zufriedenheit bei der Arbeit zu steigern. Wir wollen erreichen, dass es nicht als Schwäche, sondern als Stärke gewertet wird, sich um seine psychische Gesundheit zu kümmern.«
In Zusammenarbeit mit Gesundheitsexperten und Abgeordneten ist daraus ein überparteilicher Gesetzentwurf entstanden, der bald im Kongress verabschiedet werden soll.
Corey Feist, Lorna Breens Schwager
»Wir können sie damit nicht zurückholen, aber es ging uns bei dieser Arbeit nie um Lorna. Es ging um die anderen. Lorna hat sich immer um ihre Kollegen gekümmert. Deswegen haben wir das Gefühl, dass wir ihre Arbeit damit fortführen.«
Jennifer Murphy auf dem Weg zu ihrem Lieblingscafé. Sie ist erleichtert, dass mit den Impfungen das Leben auf die Straßen zurückkehrt. Doch die vergangenen 15 Monate haben Spuren hinterlassen. Völlig unbeschwert wie andere New Yorker, könne sie nicht weitermachen.
Jennifer Murphy, ehrenamtliche Rettungssanitäterin
»Corona ist kompliziert, weil die meisten Leute die Folgen nicht gesehen haben. Sie durften nicht ins Krankenhaus kommen, sie haben die Kühltransporter und die Leichensäcke nicht gesehen. Sie haben nicht mitbekommen, wie Patienten erstickt sind. Aber wenn man das einmal erlebt hat, dann ist es schwer, große Gruppen von Menschen zu sehen und sich gut dabei zu fühlen.«
Murphy will mit ihrem Buch bekannt machen, wie viel Sanitäter und Sanitäterinnen in der Corona-Krise geleistet haben. Und sich dafür einsetzen, dass sie angemessener bezahlt werden. Zurzeit verdienen sie knapp 30.000 Dollar im Jahr – genauso viel wie Angestellte bei der Müllabfuhr.