Corona in Osteuropa Bergamo in Ungarn

Fischerbastei in Budapest (2020): »Wenn es so weitergeht, wird Europa nicht Bergamo, sondern eine ungarische Stadt als erschütterndes Beispiel für die Zerstörungskraft des Coronavirus in Erinnerung behalten«
Foto: Akos Stiller / Bloomberg / Getty ImagesHeute ist das Nationalstadion der polnischen Hauptstadt ein Notlazarett für Coronakranke. »Es ist wie Krieg hier«, sagt ein Arzt dem Fernsehsender TVN24. Am Freitag verzeichnete Polen mit mehr als 35.000 Fällen die meisten Neuinfektionen seit Beginn der Pandemie überhaupt. Tendenz steigend. Experten haben hochgerechnet, dass bis Juli noch 25.000 Menschen an dem Virus sterben könnten.
Nachdem Osteuropa mit radikalen Lockdown-Regeln und schnellen Grenzschließungen glimpflich durch die erste Welle gekommen war, schlagen die zweite und dritte hart ein. Derzeit liegt der Inzidenzwert in Polen bei 450, in Tschechien bei 526, Ungarn erreicht sogar 665. »Wenn es so weitergeht, wird Europa nicht Bergamo, sondern eine ungarische Stadt als erschütterndes Beispiel für die Zerstörungskraft des Coronavirus in Erinnerung behalten«, sagte ein Mediziner der Budapester Wochenzeitung »hvg«.
Die Gründe für diese Entwicklung sind kaum eindeutig festzustellen. Vielleicht, so spekulieren Soziologen, halten sich die Osteuropäer nicht so streng an die Regeln; wahrscheinlich haben osteuropäische Arbeitsmigranten die britische Virusvariante besonders früh eingeschleppt, möglicherweise gehen Osteuropäer später zum Arzt als ihre westlichen EU-Mitbürger.
Denn zwischen Tallinn und Sofia liegt die Zahl der Toten relativ zur Bevölkerungszahl hoch. Auf das Pflaster in der Prager Altstadt ließ eine regierungskritische Organisation vergangene Woche 25.000 weiße Kreuze malen, eines für jeden Coronatoten.

Gedenken an Coronaopfer in der Prager Altstadt
Foto: Dana Kesnerova / imago images/Xinhua»Polen erlebt den schwierigsten Moment seit 13 Monaten«
»Polen erlebt den schwierigsten Moment seit 13 Monaten«, sagte Premier Mateusz Morawiecki unlängst. 75 Prozent der Intensivbetten in den Krankenhäusern seien belegt: »Nicht bei den Beatmungsgeräten liegt der Engpass, sondern bei Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern.« Tausende von ihnen sind in den vergangenen Jahren aus Osteuropa in den Westen gegangen, weil sie dort besser bezahlt werden, als in den chronisch unterfinanzierten Gesundheitswesen der neuen EU-Länder.
Wie auch in Tschechien, der Slowakei und Ungarn versucht Polen, des Virus vor allem mit scharfen Lockdown-Maßnahmen Herr zu werden: geschlossene Bars, Hotels, Restaurants, Einkaufszentren. In Tschechien darf niemand seinen Landkreis ohne triftigen Grund verlassen.
Ungarn und Slowakei verimpfen russische Vakzine
Doch das Virus wütet weiter. Gesellschaftswissenschaftler vermuten, dass sich viele in Osteuropa nicht sehr konsequent an die Beschränkungen halten.
Das hat historische und aktuelle Gründe. Hatte sich doch Osteuropas politische Klasse in den Neunzigerjahren vielerorts durch Korruptionsaffären unmöglich gemacht und in der Bevölkerung anhaltendes Misstrauen gesät. Michał Zabdyr-Jamróz, Politologe beim Warschauer Institut für öffentliche Gesundheit, fürchtet: »Das Misstrauen in öffentlichen Institution verhindert, dass die Coronaregeln eingehalten werden.« Viele Polen etwa empfanden die Regeln zudem als widersprüchlich oder unlogisch.
Im Internet haben Witzbolde einen Lockdown-Generator installiert. Der spuckt andauernd neue geistreiche Vorschläge für Beschränkungen aus, zum Beispiel: Heute dürfen nur Saxofonisten in Hotels logieren.
Vom Staat lass ich mir gar nichts sagen – diese Haltung ist verbreitet. In der Slowakei etwa hatte der Mord an dem Journalisten Ján Kuciak vor drei Jahren offengelegt, wie eng verwoben die Pressburger Elite mit mafiösem Oligarchen war.
Eine neue Regierung unter Igor Matovič war zwar angetreten, mit der Korruption aufzuräumen. In der Pandemie ließ sie zweimal fast die gesamte Bevölkerung durchtesten. Die dritte Welle hat das nicht abgelenkt – und jetzt zerlegt sich die Regierung über die Frage der Impfstrategie.
Wie Ungarn hat auch die Slowakei bei den Impfstoffen nicht abgewartet, sondern die russische Vakzine Sputnik V eingeführt. Budapest vergibt sogar den chinesischen Stoff – obwohl beide Mittel noch nicht von den EU-Behörden offiziell zugelassen wurden. Doch auch die dadurch erzielten verhältnismäßigen hohen Impfquoten scheinen das Virus bisher kaum zu bremsen.
Ein Problem ist auch, dass die Osteuropäer wohl dazu tendieren, deutlich später zum Arzt zu gehen als der EU-Durchschnitt. Man setzt lieber auf Hausmittel, vermuten Wissenschaftler, denn das Gesundheitssystem hat vielerorts noch ein schlechtes Renommee: Es gilt als notorisch unterfinanziert – und dadurch auch korrupt. Ärzte und Schwestern etwa haben vielerorts den Ruf, nicht selten für Vorzugsbehandlung extra zu kassieren.
Einen weiteren Grund für die Explosion der Pandemie sehen Virologen aber in der massenhaften Migration von Ost nach West – die sich um die Weihnachtstage regelmäßig umkehrt. Hunderttausende Polen arbeiten in Großbritannien, wo die gefährliche Virusvariante B schon vor den Feiertagen ihr Unwesen trieb. »Tausende von ihnen ohne Tests für die Weihnachtstage ins Land zu lassen, das war unverantwortlich von uns«, sagt die Epidemiologin Maria Gańczak.
Hoffnung auf einen Neustart mit EU-Milliarden
Auffällig ist, dass der Coronafrust sich überall vor allem gegen die nationale Obrigkeit richtet, der EU aber das Impfdebakel nicht wirklich negativ angerechnet wird – obwohl die Regierungen zum Beispiel in Ungarn oder Polen durchaus ein EU-kritisches Klima vorgeben.
Grund für diese Zurückhaltung sind sicher die zu erwartenden Coronamillionen aus Brüssel. Trotz der fatalen pandemischen Entwicklung geht es den Wirtschaften der Ostländer vergleichsweise gut. Im Januar etwa war Polen innerhalb der OECD das Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote (3,1 Prozent), Tschechien belegt einen zweiten Platz (3,2 Prozent). Das Wachstum Osteuropas basiert, so erklären Wirtschaftswissenschaftler, kaum auf dem Tourismus, relativ wenig auf dem – weitgehend geschlossenen – Dienstleistungssektor, sondern auf der Industrieproduktion. Und die geht weiter.
Die Voraussetzungen für einen Neustart sind also gut, vor allem mit den Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds. 32 Milliarden Euro an Krediten und 21 Milliarden an Zuschüssen entfallen allein auf Polen. Diese müsse Warschau ausgeben für »Institutionen, Investitionen, Innovation, Immigration und Inklusion«, sagt Marcin Piątkowski, Wirtschaftswissenschaftler bei der Weltbank. Corona könne also einen ökonomischen Modernisierungsschub durch das Land jagen: Es sei die größte »Chance in einer tausendjährigen Geschichte, den Westen einzuholen.«
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die auf den Straßen von Prag aufgemalten Kreuze seien von der Regierung in Auftrag gegeben worden – es war jedoch eine regierungskritische Organisation. Wir haben den Text an der entsprechenden Stelle korrigiert.