Covid-19 in Russland und Weißrussland Belastungsprobe für die Autoritären

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin
Foto:Mikhail Metzel/ ITAR-TASS/ imago images
Jüngst feierten orthodoxe Christen auf der ganzen Welt Ostern. Die meisten taten dies in der Abgeschiedenheit ihres Zuhauses: isoliert, aber sicher. Nicht aber Alexander Lukaschenko. Der weißrussische Präsident ging zu einer Messe in einer kleinen Dorfkirche - und ermutigte seine Landsleute, dasselbe zu tun: "Menschen mit Mut und Stärke werden in die Kirche gehen." Das ist eines der vielen einprägsamen Zitate, die Lukaschenko in jüngster Zeit von sich gab. Er ging außerdem davon aus, dass Traktoren, Eishockey und Ziegenbabys mögliche Heilmittel gegen Covid-19 seien. Bis heute ist Weißrussland der einzige Staat in Europa, der keine Quarantänemaßnahmen eingeführt hat - trotz berechtigter Kritik seiner EU-Nachbarstaaten Litauen und Lettland. In einem Interview am 3. April machte Lukaschenko deutlich, dass sich seiner Ansicht nach die weißrussische Wirtschaft, die äußerst abhängig vom russischen Ölexport ist, schlichtweg keine Quarantäne leisten kann.
Zum Autor
Omid Nouripour, Jahrgang 1975, ist außenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag.
Jedoch gehen viele BeobachterInnen davon aus, dass ein anderer Grund hinter der weißrussischen Nonchalance steckt: Für den 30. August sind Präsidentschaftswahlen angesetzt, und Lukaschenko wird zum sechsten Mal für das Amt des Präsidenten kandidieren. Im Demokratie-Theater dieses autoritären Systems möchte Lukaschenko nicht, dass ihm das Virus die Show stiehlt. Deshalb treibt Minsk die Vorbereitungen für die Siegesparade am 9. Mai voran, dem wichtigsten Feiertag des Jahres, an dem der Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gefeiert wird. Mehr als 3000 Personen werden voraussichtlich an dieser Parade teilnehmen. In Reaktion auf die dringende Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation, die Parade und andere Massenveranstaltungen abzusagen, bestritt Gesundheitsminister Wladimir Karanik schlicht, dass Quarantänemaßnahmen die Krankheit eindämmen würden.
Laut Schätzungen der Johns-Hopkins-Universität haben sich bisher mehr als 13.000 Personen mit Covid-19 in Weißrussland infiziert, mindestens 84 sind daran gestorben. Allerdings bleibt die tatsächliche Fallzahl ungeklärt, Misstrauen gegen offizielle Zahlen ist weitverbreitet - sogar unter den eigenen Anhängern Lukaschenkos. Es gibt jedoch einen Lichtblick inmitten der Düsternis. Wo der weißrussische Staat versagt, seine Bürger zu schützen, springen Freiwillige, Geschäftsleute und Aktivsten ein. Unzählige Initiativen schaffen Bewusstsein für die Pandemie, einen Vorrat an medizinischen Gütern und Schutzkleidung und kümmern sich um vulnerable Gruppen. Es scheint, als käme die Zivilgesellschaft in Weißrussland unerwarteterweise in Schwung. Dies weckt die Hoffnung eines Neuanfangs der Demokratiebewegung des Landes, die noch in den Kinderschuhen steckt. Schließlich entstand die Bewegung schon einmal im Windschatten einer Gesundheitskrise - dem Tschernobyl-Desaster von 1986.
Einen anderen Ansatz verfolgt Lukaschenkos Amtskollege in Moskau. Indem er Militärflugzeuge mit medizinischen Gütern nach Italien und in die USA schickte, nutzte Wladimir Putin die Gelegenheit, um sein internationales Ansehen aufzuwerten. Gleichzeitig gab dies den russischen Staatsmedien die Chance, das westliche Gesundheitssystem dem russischen als unterlegen darzustellen - eine fragwürdige Behauptung. Es gibt zudem Anzeichen dafür, dass die Zahl der Infizierten in Russland künstlich niedrig gehalten wurde und vielleicht immer noch wird.
Aber die Show des Kremls könnte ihm nun um die Ohren fliegen. Viel Zeit ist dabei verloren gegangen, Desinformationen zu verbreiten, sodass die Regierung erst auf das Virus reagierte, als es sich schon massiv verbreitet hatte. In der ersten Aprilwoche hatten sich die gemeldeten Fallzahlen plötzlich vervierfacht, die Statistik konnte nicht länger unter den Teppich gekehrt werden. Letztendlich haben die Behörden eine "Alle-Mann-an-Bord"-Kampagne gegen die Ausbreitung des Virus gestartet. Putin selbst hat die Menschen landesweit dazu aufgerufen, das "Regime der Selbstisolation" einzuhalten.
Es ist dabei auffallend, dass der Präsident sich dazu entschieden hat, die Aufgabe der Bewältigung des Coronavirus durch die Implementierung konkreter Maßnahmen sowie die Verantwortung für mögliche Misserfolge an die regionalen Gouverneure zu delegieren. Einige von ihnen forcieren ihre eigenen Projekte für einen Polizeistaat. Die größte Insel im Fernen Osten Russlands, Sakhalin, testet derzeit ein Gesichtserkennungssystem. In Tschetschenien wurde eine Ausgangssperre verhängt, während es in anderen Regionen eine Quarantäne ohne jeglichen Durchsetzungsmechanismus gibt.
Indem der Kreml den Regionen die Verantwortung übertragen hat, geht er davon aus, dass die RussInnen ihre regionalen Gouverneure für die Verschlechterung der Lebensbedingungen verantwortlich machen werden. Es gab bereits erste Anzeichen für Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement. In vielen russischen Regionen kamen die Menschen zu virtuellen Protesten zusammen. NutzerInnen von Yandex.Maps und Yandex.Navigator, zwei Apps, die Google Maps ähneln, hinterließen sehr viele Kommentare auf den Seiten der Behörden gegen das Regime der Selbstisolation. In Wladikawkas, nördlich der georgischen Grenze, wo 145 Fälle von Infizierten gemeldet wurden, sind die Einwohner auf die Straße gegangen. Circa 1500 von Ihnen haben sich am zentralen Platz versammelt, um den Rücktritt der regionalen Regierung zu fordern. Sie beklagten den massiven Verlust an Arbeitsplätzen sowie den Mangel an objektiven Informationen über die epidemiologische Lage in der Republik.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Damit die Bevölkerung keinen Hunger leiden muss, begann der Kreml, Geld zu verteilen: Allen russischen BürgerInnen in Selbstisolation wurde ihr Gehalt mindestens bis zum 4. Mai garantiert. Eine erhebliche Belastung des Staatshaushalts, der schon durch den historischen Preisabfall des Öls vor Herausforderungen gestellt wird. Diese Großzügigkeit ist sicherlich nicht auf eine plötzliche Orientierung hin zu einem Wohlfahrtsstaat zurückzuführen, sondern hat viel mehr mit der geplanten Verfassungsänderung zu tun, die Putin erlauben soll, bis zum Jahr 2036 im Amt zu bleiben. Die Russen sollten eigentlich am 22. April - zumindest formal - über die Zukunft des Regimes entscheiden. Wegen der Corona-Pandemie wurde die Abstimmung erst mal auf unbestimmte Zeit verschoben, weshalb der Neustart von Putins Amtszeit vorerst ausgesetzt ist. In der Zwischenzeit soll die Fortzahlung der Gehälter die öffentliche Meinung zugunsten des Regimes sichern.
Ob diese Strategie letztendlich erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Selbst ein garantiertes Einkommen ist nicht in der Lage, die immense sozioökonomische Ungleichheit zwischen Moskau und dem russischen Hinterland, die sich in den vergangenen Jahrzehnten verschärft hat, auszugleichen. Korrupte Regierungsführung und Armut manifestieren sich in einem desolaten Gesundheitssystem, das in einigen ländlichen Gebieten praktisch nicht einmal vorhanden ist. Hauptsächlich für die ältere Bevölkerung vor Ort stellt Covid-19 eine existenzielle Bedrohung dar. Diese wachsende Spannung wird die Narrative der Staatsmedien untergraben und könnte das Regime Putin in eine politische Krise stürzen.
Oft wird behauptet, das Coronavirus spiele Autokraten in die Hände. Da sie Kraft ihrer Konstitution Restriktionen einfacher auferlegen und Ressourcen kontrollieren können, können sie vermeintlich mit Krisen einer solchen Größenordnung besser umgehen als Demokratien. Die Pandemie gibt ihnen die Möglichkeit ihre Kontrolle sogar auszubauen. Als Beispiel dafür wird immer wieder China zitiert.
An Russland und Weißrussland sieht man, dass diese Annahme nicht stimmen muss. Es ist sicher zu früh, um Voraussagen darüber zu treffen, wie die Herausforderungen, die Covid-19 mit sich bringt, Russland und Weißrussland verändern werden, aber zwei Beobachtungen scheinen angemessen: Erstens macht die Epidemie die Führung in Moskau und Minsk nervös. Und zweitens löst die Coronakrise Kräfte in der Gesellschaft aus, die sie nicht kontrollieren können. Dies lässt mich die Frage aufwerfen: Wird diese Ausnahmesituation die autoritären Systeme in ihren Grundfesten erschüttern?