Coronakrise in Asiens Textilindustrie 14-Stunden-Schichten zum Überleben

Die Textilfabriken in Bangladesch produzieren wieder. Doch die Pandemie offenbart: Die Arbeiterinnen können ohne Überstunden nicht von ihrem Lohn leben – und internationale Marken drücken derzeit massiv die Preise.
Näherin in Bangladesch, nach der Wiederöffnung der Fabriken nach dem Corona-Shutdown

Näherin in Bangladesch, nach der Wiederöffnung der Fabriken nach dem Corona-Shutdown

Foto: Fabeha Monir / DER SPIEGEL
Globale Gesellschaft

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Feierabend bedeutete für Sahida Begum normalerweise, um 22 Uhr in der Dunkelheit nach Hause zu laufen. Doch seit der Pandemie ist nichts mehr normal. Seit diesem Sommer stellt sie, genau wie die anderen Textilarbeiterinnen, pünktlich um 17 Uhr ihre Nähmaschine aus und verlässt die Fabrik. Was für viele wie ein regulärer Arbeitstag klingt, ist für die 32-Jährige ein Albtraum, sagt sie.

Begum näht Reißverschlüsse in Hosen, unter anderem für Modemarken wie Esprit und Zara. Seit fünf Jahren arbeitet sie in einer der Hunderten Fabriken in der Industriestadt Tongi am Rande von Dhaka, Millionenmetropole und Hauptstadt von Bangladesch. Doch über die freie Zeit freut sie sich nicht.

Im Gegenteil: Diese zusätzlichen fünf Überstunden ermöglichten es Begum erst, die Miete ihrer Einzimmerwohnung zu zahlen, Essen für ihre zehnjährigen Zwillinge zu kaufen und etwas zu sparen. "Momentan bekommen wir nicht genügend Aufträge", sagt sie. "Wir wollen arbeiten. Vor allem aber müssen wir Geld verdienen, um zu überleben."

Sahida Begum

Sahida Begum

Foto: Fabeha Monir / DER SPIEGEL

Seit Mai, nach einem knapp anderthalbmonatigen Lockdown, produzieren die rund 4000 Textilfabriken in Bangladesch wieder. 40 Prozent der stornierten Bestellungen wurden wieder aufgenommen, sagte AK Abdul Momen, der Außenminister Bangladeschs, kürzlich. Viele Modeunternehmen hatten im Frühjahr ihre Zahlungen gestundet oder Aufträge storniert, insgesamt in Höhe von knapp drei Milliarden Euro.

Dennoch wirken sich Pandemie und geschlossene Läden in Europas Einkaufsstraßen weiterhin massiv aus. Laut einer Befragung  des Center for Global Workers' Rights  der US-amerikanischen Penn State University sollen internationale Marken in verschiedenen Produktionsländern die Preise um mehr als zwölf Prozent gedrückt und damit "die Verzweiflung" der Fabriken "ausgenutzt haben". 

Das Auftragsvolumen sei seit September wieder gestiegen, die Preise jedoch gefallen, sagte Iqbal Hamid Quraishi, Fabrikbesitzer und einer der Direktoren des mächtigen Textilverbandes BGMEA, gegenüber der Thomson Reuters Foundation. "Es gibt wenig Spielraum, um mit Marken zu verhandeln. Sie sagen uns, dass sie sich an andere Lieferanten wenden, wenn wir mit dem Preis nicht einverstanden sind."

Diejenigen, die darunter am meisten leiden, sind am unteren Ende der Lieferkette. Zehntausende Arbeiter verloren nach Gewerkschaftsangaben ihren Job. In einer aktuellen Umfrage  der Brac Universität Dhaka und der University of California Berkeley gaben drei Viertel der mehr als 1000 Befragten an, weniger als zuvor zu verdienen; weitere drei Viertel teilten mit, auf Fisch und Fleisch zu verzichten, um Geld zu sparen. Andere müssen auf ihre Ersparnisse zurückgreifen, um zu überleben. 

Die Corona-Pandemie offenbart, was Wissenschaftler und Aktivisten bereits seit Jahren sagen: Nur durch Überstunden können Näherinnen wie Sahida Begum überhaupt von ihrem Lohn leben. Dabei hatte die Regierung den Mindestlohn vor zwei Jahren bereits verdoppelt, auf monatlich 8000 Taka, umgerechnet 79 Euro. "Aber auch dieser Mindestlohn reicht weder aus, um sich ausgewogen zu ernähren, noch um etwas für die Rente beiseitezulegen", sagt Khondaker Golam Moazzem, wissenschaftlicher Direktor des Thinktanks Centre for Policy Dialogue in Dhaka

Näherin in Dhaka, Bangladesch (Archivbild)

Näherin in Dhaka, Bangladesch (Archivbild)

Foto: Mehedi Hasan / ZUMA Press / imago images

Sahida Begum ist eine erfahrene Näherin, die vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist. Sie erhielt, wie von der Regierung vorgesehen, während des Lockdowns zwischen Ende März und Anfang Mai 60 Prozent ihres Lohns. "Doch wir leben in ständiger Angst, unseren Job zu verlieren", sagt sie.

Die Schule ihrer Kinder ist geschlossen, die Zwillingsmädchen sind zu Hause mit ihrem Ehemann, der seinen Job als Elektriker in einer Fabrik verloren hat. Derzeit erhält Begum ihr Grundgehalt von 10.200 Taka, knapp 103 Euro monatlich. Vor der Krise hat sie durch die Überstunden mindestens fünfzig Euro mehr verdient. 

40 Euro Miete für eine Einzimmerwohnung für die ganze Familie

Sie kann derzeit deshalb weder private Nachhilfe für ihre Mädchen zahlen, die nicht zur Schule gehen dürfen, noch kann sie weiter sparen für das Haus, das sie sich mit ihrem Ehemann in ihrem Heimatdistrikt Kishoreganj für die Rente bauen wollte. Ihr Geld reicht gerade mal für die Miete der Einzimmerwohnung von 40 Euro und für Lebensmittel, wobei sie auch an Essen für sich selbst spart.

Während Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) versuchen, das Lieferketten-Gesetz in dieser Legislaturperiode zu verabschieden, geht es in Bangladesch momentan weniger um mögliche Gerichtsverfahren, weniger um Gewerkschaftsrechte, sondern für die meisten Arbeiter schlicht um einen angemessenen Lohn. Von dem Gesetz hat Begum noch nie gehört. Aber sie findet es prinzipiell eine gute Idee. "Das wird sowohl dem Besitzer helfen als auch uns", sagt sie.

Bangladesch ist nach China weltweit der größte Produzent von Textilien. Der Industriezweig macht knapp elf Prozent des Bruttoninlandsprodukts aus. Doch mit der Pandemie brach nicht nur die globale Lieferkette zusammen, sondern auch ein implizites Handelsversprechen, das den Westen mit diesem Land verbindet: billige Kleidung gegen Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Aufstieg. 

Tatsächlich hat auch der Ausbau der Textilindustrie in den vergangenen vierzig Jahren in Bangladesch für einen gewissen Wohlstand gesorgt. Seit 1980 ist das durchschnittliche Lebensalter um zwanzig Jahre auf über siebzig gestiegen, Frauen bekommen durchschnittlich knapp zwei und nicht mehr sechs Kinder. Die Anzahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ist seit 1991 von 44 Prozent um zwei Drittel gesunken. Immer wieder schreiben Analysten und Journalisten über den nie endenden Aufstieg Bangladeschs. 

Zairen Akter

Zairen Akter

Foto: Fabeha Monir / DER SPIEGEL

Auch der Lohn von Zairen Akter ist über die Jahre gestiegen. Als sie 2002 – mit damals 14 Jahren – anfing zu nähen, verdiente sie, so erzählt sie es, in der Fabrik in Tongi 930 Taka pro Monat, knapp 9,40 Euro. Knapp 20 Jahre später, vor der Pandemie, bekam die heute 32-Jährige mit Überstunden das fünfzehnfache, um die 150 Euro. Jetzt fehlen ihr, genau wie Begum, die zusätzlichen fünfzig Euro.

Um Miete zu sparen, wohnt Zairen Akter knapp 30 Minuten von der Fabrik entfernt. Nahe der Fabriken sind die Mieten oft überproportional hoch; Vermieter und Geschäfte nutzen aus, dass die Arbeiterinnen nahe an ihrem Arbeitsplatz leben müssen, weil es kein schnelles Busnetz gibt. 

Für das Zimmer zahlt Akter umgerechnet 27 Euro, ein Viertel ihres jetzigen Einkommens. Die zwei Toiletten und eine Küche teilt sie sich mit 25 Nachbarn – auch ein Grund, weshalb Akter befürchtet, sich leicht mit dem Coronavirus anstecken zu können. "Wenn einer es hat, haben wir es alle." 

Näherinnen in Dhaka, Bangladesch (Archivbild): "Distanz wahren kann man nicht"

Näherinnen in Dhaka, Bangladesch (Archivbild): "Distanz wahren kann man nicht"

Foto: Mehedi Hasan / ZUMA Press / imago images

Insgesamt haben sich in Bangladesch bereits mehr als 407.000 Menschen mit Covid-19 infiziert, mehr als 5900 sind daran gestorben. Zwar soll sich Akter in der Fabrik alle zwanzig Minuten die Hände waschen und immer eine Maske tragen, erzählt sie, es gebe Seife und genug Toiletten. Doch die Nähmaschinen stünden dicht an dicht. "Distanz wahren kann man nicht", sagt sie. 

Vor allem fürchtet sie aber einen neuen Lockdown in Europa. Dieser könne wieder dazu führen, dass Marken ihre Aufträge stornieren oder gar die Fabriken in Bangladesch schließen müssen. In der Zwischenzeit, sagt sie, wird sie einfach weiterhin zur Arbeit gehen und hoffen, nicht an Covid-19 zu erkranken. Denn das könne sie sich wirklich nicht leisten. 

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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