Soziale Not in Brasilien nach dem Lockdown Wo Hungernde in Fleischabfällen wühlen

Ein Mann durchsucht Fleischabfälle auf einem Lastwagen in Rio de Janeiro
Foto: Domingos Peixoto / O Globo / picture alliance / ZUMAPRESS.com
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Am letzten Mittwoch des Monats September hatte Rosangela Sibele de Almeida Melo den ganzen Tag lang nichts gegessen. Ihr war kalt. Gegen 20 Uhr lief sie in einen Supermarkt im Viertel Vila Mariana im Süden der Stadt São Paulo. Sie nahm eine 600-ml-Flasche Coca-Cola aus dem Regal, ein Päckchen mit Instantpulver für Zitronensaft, zwei Nudelsuppen und eine Kondensmilch. Die Kondensmilch stellte sie wieder zurück. Geld hatte sie keins.
Als sie den Laden verlassen wollte, hielt eine Verkäuferin sie fest. Zwei Polizisten, die auf der Straße patrouillierten, eilten herbei. Almeida Melo, 41, Mutter von fünf Kindern, versuchte wegzurennen, doch sie fiel hin. Die Polizisten führten sie mit Handschellen ab und brachten sie in Untersuchungshaft. Der Gesamtwert der gestohlenen Waren belief sich auf knapp 22 Real, umgerechnet knapp 3,50 Euro.

Obdachlose kampieren im Zentrum von São Paulo
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGELDreimal verweigerten Gerichte die Freilassung der geschiedenen Frau, deren Kinder derzeit bei ihrer Mutter leben. »Ich hatte Hunger«, verteidigte sich Almeida Melo. »Wir müssen strenger sein in diesen Zeiten«, argumentierte die Richterin Luciana Menezes Scorza, »die Bevölkerung, die zu Hause bleibt, muss geschützt werden vor denen, die auf die Straße gehen mit dem alleinigen Ziel, ein Verbrechen zu begehen.« Im Klartext: Almeida Melo solle sich daheim isolieren, um in der Pandemie niemanden zu gefährden, anstatt in einem Laden Essen zu klauen.
Almeida Melo ist obdachlos. Dass sie gar kein Zuhause hatte, in das sie sich hätte zurückziehen können, spielte für die Richterin offenbar keine Rolle. Es ist eine Argumentation, die in ihrer Ignoranz an das zynische Zitat erinnert, das der französische Sozialphilosoph Jean-Jacques Rousseau einst notierte: »Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.«
Die »Kriminalisierung und Bestrafung von Armut«, wie es der katholische Pfarrer Padre Julio Lancellotti in der Onlinezeitung »Ponte Jornalismo« nannte, ist nur ein Ausdruck der gewaltigen sozialen Krise, die Brasilien derzeit erlebt. Das Land ist mit inzwischen mehr als 600.000 Coronatoten schwer getroffen von der Pandemie, aber auch von deren wirtschaftlichen Folgen. Eine Erholung, wie sie derzeit in den USA und Teilen Europas zu beobachten ist, ist hier nicht in Sicht – jedenfalls nicht für die Armen.
Denn diese Gruppe ist deutlich ärmer als vor der Krise. »Viele sind abgerutscht. Wir haben mehr Favelas, mehr Slums, mehr Obdachlose«, sagt die Politikwissenschaftlerin Camila Kimie Ugino. 27 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer gelten inzwischen als arm, das bedeutet, dass sie weniger als 41 Euro pro Person im Monat zur Verfügung haben. 19 Millionen von ihnen litten 2020 unter Hunger. Insgesamt waren sogar mehr als die Hälfte der Menschen im Land von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Bei Protesten gegen die Regierung fordern die Demonstrierenden inzwischen schlicht: »Essen auf dem Teller.«
Die Gründe für die Misere sind vielfältig. »Corona war wie ein großer Sturm nach Jahren des schlechten Wetters«, sagt der Ökonom Macelo Neri von der Stiftung Getulio Vargas in Rio de Janeiro. Schon vor der Pandemie habe das Land in einer chronischen Krise festgesteckt und die Wirtschaft stagniert, Investoren waren aufgrund fehlender politischer Stabilität davongelaufen. Der Schock durch die Pandemie sitze nun besonders tief – und er habe die ohnehin extreme Ungleichheit weiter verschärft.

Obdachlose Mütter nach einem Frühstück bei einer Essensausgabe für Arme in São Paulo
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGELDas liegt vor allem am geschwächten Arbeitsmarkt: Fast zehn Prozent des Einkommens durch Arbeit sind seit Beginn der Pandemie bis heute weggefallen. Betroffen sind dabei vor allem die geringeren Verdienste: Hier sind 21,5 Prozent des Gesamteinkommens vernichtet worden. Der informelle Sektor, der hauptsächlich aus Jobs im Dienstleistungsbereich wie Putzen, Kochen oder Verkaufen auf der Straße besteht, wurde am härtesten getroffen. »Das bedeutet, dass die Armen unter der Krise am meisten leiden«, so Neri. Rund ein Drittel dieser Menschen hätten ihre Arbeit in der Pandemie verloren.
Besonders beunruhigend ist die Beharrlichkeit der Entwicklung: Während sich das brasilianische Bruttoinlandsprodukt inzwischen wieder erholt hat, scheint dies beim Arbeitsmarkt nur langsam der Fall zu sein. Mit dem Ende der meisten Lockdown-Maßnahmen und dem Fortschritt bei der Impfkampagne kommen die Jobs also nicht einfach zurück. Unternehmen sind pleitegegangen oder sparen Arbeitsplätze ein, internationale Konzerne haben sich teilweise aus dem Land zurückgezogen, Privathaushalte geben weniger Geld aus. Wer einmal aus einer prekären Lage in völlige Armut abgerutscht ist, klettert die soziale Leiter nicht einfach so wieder hinauf.

Schüler nehmen am Wechselunterricht einer öffentlichen Schule in São Paulo teil
Foto: Andre Penner / APAls Langzeitfolge der Pandemie droht dem Land eine verlorene Generation: Ausgerechnet unter Jugendlichen ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch. Die Bildungsausfälle durch geschlossene Schulen sind immens und auch hier reproduziert sich die Ungleichheit. Während teure Privatschulen rasch gute, digitale Lernangebote machten und inzwischen längst wieder geöffnet sind, dürfen Kinder aus der Favela – die oft keinen Zugang zu digitalen Endgeräten oder keinen Internetanschluss zu Hause haben – teilweise immer noch nur an einem Tag pro Woche zur Schule gehen.
Zudem ist die ärmere Bevölkerung von der hohen Inflation stärker betroffen als jene mit höheren Einkommen. Diese betrug zuletzt mehr als zehn Prozent. Deutlich überdurchschnittlich verteuerten sich dabei Grundnahrungsmittel und Gas, das zum Kochen verwendet wird. Der Preis für einen Basis-Lebensmittelkorb stieg von 500 Real (78 Euro) im Dezember 2019 in São Paulo auf 673 Real (105 Euro) im September 2021. Ein solcher Korb beinhaltet Güter wie Milch, Bohnen, Reis, Kartoffeln, Zucker und Öl und soll bis zu vier Personen zehn Tage lang versorgen können.

Brasilianer durchsuchen einen Lastwagen mit Fleischabfällen. Früher wurden sie weggeworfen, jetzt werden sie verkauft
Foto: Domingos Peixoto / O Globo / picture alliance / ZUMAPRESS.comSo ist Fleisch für viele Brasilianerinnen und Brasilianer inzwischen unerschwinglich. Einen Aufschrei lösten kürzlich die Bilder des Fotografen Domingo Peixoto aus: Sie zeigen Menschen, die in Rio de Janeiro Schlange stehen für von Supermärkten aussortierte Knochen und Fleischabfälle. Früher landeten diese Reste im Müll, heute werden sie verkauft. Eines der Bilder wurde auf der Titelseite des Magazins »Extra« gedruckt. »Das hat die Leute schockiert, weil diese Armut normalerweise versteckt ist und nicht gezeigt wird«, sagt die Politikwissenschaftlerin Ugino, »in den großen urbanen Zentren haben wir geradezu eine Apartheid zwischen den Armen und den reicheren Schichten.«
Brasilien befindet sich in einer komplizierten Gesamtlage, die Ökonomen als »Stagflation« bezeichnen – eine Situation hoher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger hoher Inflation. Um der steigenden Inflation entgegenzuwirken, erhöhte die brasilianische Zentralbank zuletzt die Zinsen. Doch diese Politik wirkt sich nun wiederum negativ auf Löhne und den Jobmarkt aus, schließlich soll die sich im Umlauf befindende Geldmenge reduziert werden.
So ziemlich jede Maßnahme gleiche in solch einer Situation einer »zu kurzen Decke«, meint der Wirtschaftswissenschaftler Neri. Man ziehe an der einen Seite und schon wären die Füße unbedeckt, dann an der anderen und die Brust werde freigelegt.
Dass die Zahl der Armen in Brasiliens Statistiken nicht noch viel höher ausfällt, liegt vor allem am vergleichsweise großzügigen Corona-Nothilfeprogramm der Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro. Rund ein Drittel der Brasilianer profitiert davon, längst nicht nur die Ärmsten. Jedoch: »Das Nothilfeprogramm ist teuer, aber nicht besonders nachhaltig«, meint Neri. Man habe Geld quasi »vom Hubschrauber aus abgeworfen«.

Arme Brasilianer stehen Schlange in Rio de Janeiro, um Fleischabfälle zu kaufen
Foto: Domingos Peixoto / O Globo / picture alliance / ZUMAPRESS.comDas, so glaubt er, werde sich schon bald rächen. Die Kassen sind leer. Im Oktober fand nun die vorerst letzte Auszahlung der Nothilfe statt. »Danach müssen wir wohl mit einer weiteren Verschlechterung der Situation rechnen.« Gezieltere Programme wie etwa die unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva eingeführte »Bolsa Família«, eine Art Sozialhilfe, seien in den vergangenen Jahren reduziert und der Zugang zu ihnen erschwert worden, sagt die Politikwissenschaftlerin Ugino.
Beide hoffen nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2022 auf eine neue Regierung, der es gelingt, eine intelligente Wirtschaftspolitik mit einer effizienten Sozialpolitik zu vereinbaren. »Das Problem ist komplex, eine einfache Lösung gibt es nicht«, sagt Neri. Andererseits habe Brasilien aber auch gute Voraussetzungen: etwa ein starkes, flächendeckend ausgebautes Gesundheits- und Sozialsystem.
Die obdachlose Mutter Sibele de Almeida Melo aus São Paulo ist inzwischen aus der Haft entlassen worden. Dies entschied ein höheres Gericht in der Hauptstadt Brasilia. Ihr Fall hatte viel Aufmerksamkeit in den brasilianischen Medien erregt. Unklar ist, wie viele wegen ähnlicher Taten noch in Haft sind. »Wir wissen nicht, wie viele Menschen wegen Delikten, die aus Hunger begangen wurden, verhaftet werden«, sagt die Juristin Viviane Balbuglio von der Bürgerrechtsorganisation Irmãs da Santa Cruz, »aber es sind sicher Tausende.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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