Türkei in der Pandemie Schuss ins Herz

In der Türkei erschoss die Polizei einen jungen Syrer - weil er gegen die Corona-Ausgangsregeln verstoßen haben soll. Sein Fall zeigt die Not der Ärmsten im Land.
Polizeikontrolle in der Türkei: Beamte prüfen landesweit, ob sich an die Ausgangssperren für bestimmte Altersgruppen gehalten wird

Polizeikontrolle in der Türkei: Beamte prüfen landesweit, ob sich an die Ausgangssperren für bestimmte Altersgruppen gehalten wird

Foto: Burthan Ozbilici/ AP
Globale Gesellschaft

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Ali al-Hamdan aus Syrien ist tot, gestorben am Montag durch eine Polizeikugel in der türkischen Provinz Adana. "Ein tragischer Unfall", teilte der zuständige Gouverneur wenig später mit. Gemeinsam mit Kollegen hätte ein Beamter die Einhaltung der geltenden Ausgangssperre kontrollieren wollen, der junge Mann sei jedoch weggelaufen und dabei "versehentlich" von einem Warnschuss ins Bein getroffen worden. Mit dieser Erklärung schien der Fall bereits nach wenigen Stunden so gut wie erledigt - dann tauchte ein Video der Szene im Internet auf .

Die Aufnahme zeigt, wie Rettungskräfte versuchen den am Boden liegenden Ali al-Hamdan, wiederzubeleben. Eine Wunde am Bein ist in dem Video nicht zu erkennen. Dafür jedoch ein Schuss in die Brust. Während die Rettungskräfte den bewusstlosen Jugendlichen in den Krankenwagen heben, hört man in dem Video deutlich die Stimme einer Frau: "Der Polizist lief hinter dem Jungen her. Weil er nicht stehen blieb, hat er geschossen - ins Herz."

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Innerhalb kurzer Zeit wurde das Video Zehntausende Male angeschaut, unter dem Hashtag #AliyiOldurenlerNerede ("Wo sind die, die Ali getötet haben") forderten zahlreiche Menschen auf Twitter, Aufklärung und Ermittlungen gegen den Polizisten - mit Erfolg.

Behörden ermitteln wegen Mordes

Wie der Vorsitzende der Anwaltskammer von Adana, Veli Kücük, mitteilte, hat der Autopsiebericht mittlerweile bestätigt, das Hamdan aus etwa drei Metern Entfernung ins Herz geschossen worden war. Der Staatsanwaltschaft zufolge wurde der verantwortliche Polizist festgenommen, gegen ihn wird wegen Mordes ermittelt.

In der Türkei hoffen viele, auf ein gerechtes Urteil. Denn in der Vergangenheit kamen Polizisten, die tödliche Schüsse auf Unbewaffnete abgegeben hatten, in mehreren Fällen straflos davon. Der Fall Ali al-Hamdan steht jedoch nicht nur für die willkürliche Polizeigewalt im Land. Er zeigt auch, wie die Coronakrise vor allem die Ärmsten die Ärmsten hart trifft.

Am 11. März wurde in der Türkei der erste Corona-Fall offiziell bestätigt. Die Regierung verhängte daraufhin Ausgangssperren für bestimmte Altersgruppen. Menschen, die älter als 65 oder jünger als 20 Jahre alt sind, dürfen das Haus nicht mehr verlassen. Über das Alter von Hamdan gibt es in türkischen Medien unterschiedliche Angaben. Einigen Zeitungen zufolge war der syrische Flüchtling 19 Jahre alt, andere schreiben er sei erst 17 gewesen. Sicher ist jedoch, dass er das Haus nicht hätte verlassen dürfen.

Flüchtlingsfamilien sind auf das Einkommen angewiesen

Der junge Mann habe sich draußen aufgehalten "weil er arbeiten musste und er ist gerannt, um eine Strafe zu vermeiden", sagte Kücük, der Vorsitzende der Anwaltskammer. Hamdan ist türkischen Medien zufolge vor sechs Jahren aus dem syrischen Aleppo in die türkische Provinz Adana geflohen. Wie viele minderjährige Flüchtlinge in der Türkei habe auch er zum Einkommen der Familie beitragen müssen und daher bereits als Kind in einer Textilwerkstatt ausgeholfen.

Auch sein letzter Weg sollte ihn Berichten zufolge zum Arbeiten in eine Näherei führen. Einen Verdienstausfall wegen der Ausgangssperre habe sich die Familie nicht leisten können. Hamdan hat dafür mit dem Leben bezahlt. Für viele andere arme Familien im Land stellt sich nach wie vor die Frage, wie sie sich an die Corona-Beschränkungen halten und gleichzeitig ihr Überleben sicher sollen.

Durch die Ausgangssperren für unter 20-Jährige im Land fallen in vielen Familien wichtige Einkommensquellen weg. Die wirtschaftliche Lage in der Türkei war bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie schwierig - nun droht das Land noch weiter in die Krise zu sacken. Ganz besonders schlimm könnte es die vier Millionen Flüchtlinge im Land treffen.

"Die Lage für die Flüchtlinge war vor Corona bereits katastrophal, nun wird sie noch schwieriger", sagt Sherine Ibrahim, Länderdirektorin der Hilfsorganisation Care. "Die Mehrheit der Geflüchteten in der Türkei lebt unterhalb der Armutsgrenze und ist auf Tagelöhne angewiesen, um über die Runden zu kommen", sagt Ibrahim. Und diese fallen jetzt weg, da viele Unternehme und Geschäfte wegen Corona geschlossen haben.

Soziale Spannungen nehmen zu

Bereits vor der Coronakrise war die Stimmung im Land gegen die Flüchtlinge umgeschlagen. Mehrfach kam es zu fremdenfeindlichen Übergriffen. Die Syrer im Land wurden zunehmend als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Wohnraum empfunden. Experten fürchten nun, dass künftig in Teilen der Bevölkerung auch das Gefühl entstehe, man konkurriere mit den Flüchtlingen um medizinische Versorgung.

Das türkische Gesundheitsministerium sichert allen Corona-Verdachtsfällen zu, kostenfrei behandelt zu werden. Mittlerweile meldet das Land mehr als 110.000 Infizierte. Wie viele davon Flüchtlinge sind, macht die Regierung in Ankara nicht öffentlich - möglicherweise auch um die Spannungen nicht zusätzlich zu befeuern.  

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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