Coronakrise im Elsass "Wir warten auf die zweite Welle"

Feldlazarett in Mulhouse: Die Coronakrise traf zunächst vor allem den Osten Frankreichs, nun breitet sich das Virus aus
Foto: POOL/ REUTERSEs gibt ein neues Ritual in dieser Ausgangssperre, deren elfter Tag an diesem Freitag in Frankreich beginnt: Jeden Abend zwischen 19 und 19.30 Uhr verkündet der Direktor der nationalen Gesundheitsbehörde, Jerôme Salomon, die neuesten Zahlen zur Coronakrise. Die Nachrichtensender verzeichnen zu dieser Zeit ungewohnt hohe Einschaltquoten. Am Donnerstagabend gab Salomon die traurige Zahl von 365 Toten in den vergangenen 24 Stunden bekannt, darunter auch erstmals ein 16-jähriges Mädchen, das keinerlei Vorerkrankungen hatte.
29.155 Infizierte sind es nach derzeitigem Stand insgesamt im Land, 1696 Franzosen starben seit Ausbruch der Epidemie. Besonders dramatisch ist die Lage seit geraumer Zeit im Osten Frankreichs. Das Elsass gilt als die bisher am stärksten betroffene Region.
Am Montag eröffnete Präsident Emmanuel Macron in Mulhouse ein Feldlazarett mit 30 neuen Intensivbetten auf dem Parkplatz eines staatlichen Krankenhauses. Französische Soldaten hatten es in Rekordzeit aufgebaut. Am Donnerstag brachte ein zur Krankenstation umgerüsteter TGV-Schnellzug 20 Corona-Patienten von Straßburg nach Angers und Nantes. Von dort wurden sie in Begleitung von Pflegepersonal und Ärzten in Krankenhäuser der Region transportiert.
Epizentrum Mulhouse
Andere Patienten werden in Militärhubschraubern ausgeflogen. Einem internen Vermerk des deutschen Verteidigungsministeriums zufolge gab es erste Anfragen an die Bundeswehr, die Transporte mit Hubschraubern zu unterstützen. Es handele sich dabei aber lediglich um Überlegungen auf regionaler Ebene, hieß es gestern aus dem Élysée. Auch das französische Verteidigungsministerium bestätigte, es sei keine offizielle Anfrage gestellt worden.
Mulhouse gilt als Ausgangspunkt und Epizentrum der Epidemie in Frankreichs Osten. Ende Februar hatten sich in der 110.000-Einwohner-Stadt bei einer Veranstaltung der evangelikalen Kirche "Portes Ouvertes Chrétiennes", an der 2500 Menschen teilnahmen, zahlreiche Gläubige angesteckt. Die ersten Schilderungen erschütterter Krankenschwestern, die ersten Bilder total überlasteter Notaufnahmen und Intensivstationen kamen von dort.
"Es ist fürchterlich, es kommen viel zu viele Patienten, unsere Räume sind dafür nicht ausgestattet, wir haben nicht genügend Personal", sagte eine Krankenschwester des Hospitals Emile Muller in Mulhouse schon vor einer Woche. Dann schilderte sie in einem Interview mit dem "Parisien" sichtlich betroffen das System der "Triage", der Priorisierung von Patienten: 40- bis 65-Jährige würden bevorzugt behandelt, 85-Jährige kämen erst danach dran. "Die Patienten haben Angst, wenn sie zu uns kommen, aber wir haben auch Angst."
Ärzte im Ruhestand kehren in die Krankenhäuser zurück
Experten befürchten nun, dass nach dem Osten des Landes der Großraum Paris zum nächsten Krisenherd wird. "Wir warten auf die zweite Welle", sagt ein Arzt eines großen Pariser Hospitals. Martin Hirsch, Direktor aller Pariser Krankenhäuser, hatte schon zu Beginn der Woche in einem dramatischen Appell Ärzte und Pflegepersonal im Ruhestand dazu aufgerufen, sich in den Pariser Krankenhäusern zu melden und an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. 800 Ärzte folgten dem Aufruf. Auch mehrere französische Abgeordnete, die Mediziner sind, kehrten in ihren alten Beruf zurück, darunter Agnès Buzyn, die bis Anfang Februar Gesundheitsministerin war.
Besorgniserregend ist die Situation in den Vorstädten von Paris, den "banlieues". Dort, wo die Wohnungen klein sind und die strengen Regeln der landesweiten Ausgangssperre oft auf wenig Verständnis treffen.
"Das Risiko der Ansteckung ist hier ungleich höher", sagte Romain Dufau, Leiter der Notaufnahme des Jean-Verdier-Krankenhauses in Bondy gegenüber "Le Monde". "Es ist nicht selten, dass sechsköpfige Familien auf 45 Quadratmetern leben. Das halten die Jugendlichen nicht lange aus und treffen sich dann draußen." In Paris würden die Vorsichtsmaßnahmen von der Bevölkerung weitgehend eingehalten, in den Vororten aber seien sie kaum durchzusetzen.
Im Département 93 ist kein einziges Intensivbett mehr frei
Die Folgen sind dramatisch, seit Dienstag steigen die Zahlen im Département deutlich an, unter den Kranken sind auch viele junge Corona-Patienten. "Im gesamten Raum 93 (Anmerk. d. Red.: Postleitzahl vom Département Seine-Saint-Denis) haben wir kein einziges Intensivbett mehr frei." Mittlerweile würden Patienten von hier nach Orléans und Rouen weitertransportiert.
Auf ein solches Szenario stellen sich mittlerweile auch die Krankenhäuser in Paris ein. Die Situation werde schwierig werden in den nächsten Tagen, erklärte Premierminister Édouard Philippe am Freitagmorgen. "Wir werden durchhalten müssen, aber die Welle der Epidemie, die gerade durch Frankreich brandet, kommt nun in der Île de France an. Und die Welle ist groß."
Über eine Million Franzosen haben laut einer Auswertung von Daten des Mobilfunkanbieters Orange den Großraum Paris zwischen dem 13. und 20. März verlassen, das sind 17 Prozent der hier sonst wohnenden Bevölkerung. Es bleiben immer noch über zehn Millionen zurück - zu viele Menschen für eine große Welle.