Dramatische Zahlen in Tschechien Jetzt rächt sich die sorglose Corona-Politik

In Osteuropa explodieren die Infektionszahlen, besonders ernst ist die Lage in Tschechien. Premier Babiš beweist in der Krise wenig Gespür - das Vertrauen der Menschen ist erschüttert.
Frauen beten während Messe auf dem Altstädter Ring: Strenge Corona-Regeln in Tschechien

Frauen beten während Messe auf dem Altstädter Ring: Strenge Corona-Regeln in Tschechien

Foto: Petr David Josek / DPA

Die höchste Infektionsrate Europas, die meisten Covid-19-Toten auf 100.000 Einwohner, ein Gesundheitswesen am Limit, einschneidende Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, die Mehrzahl der Geschäfte geschlossen - in Tschechien verläuft die Coronakrise derzeit noch dramatischer als im Frühjahr.

Ausgerechnet in dieser Situation postete der tschechische Premier und Milliardär Andrej Babiš vor einigen Tagen auf seiner Facebook-Seite das Foto eines Schokoladenküchleins mit Sahnehaube und glasierter Zuckermöhre darauf. "Karotten-Cupcake", schrieb er dazu und hängte ein lachendes Emoji mit Herzchenaugen an.

Premier Babiš besichtigt ein Feldkrankenhaus für Covid-19-Patienten: Vertrauen der Bevölkerung verspielt

Premier Babiš besichtigt ein Feldkrankenhaus für Covid-19-Patienten: Vertrauen der Bevölkerung verspielt

Foto: Michal Krumphanzl / dpa

Viele Tschechen waren fassungslos, der Post schaffte es in die nationalen Schlagzeilen. Auf Babiš' Facebook-Seite kommentierten bisher mehr als 3000 Besucher den Eintrag, überwiegend empört und wütend, nicht wenige mit derben Ausdrücken. Einige erinnerten den Premier daran, dass gerade eine Rekordanzahl von Menschen gestorben sei, andere forderten ihn wegen seiner Taktlosigkeit zum Rücktritt auf. "Wegen Ihrer Maßnahmen wird die Hälfte der Menschen nicht einmal mehr Brot haben, und Sie fotografieren einen Cupcake", schrieb eine Frau.

Erst Entwarnung, dann Explosion

Der Post war kein einmaliger Fehltritt von Babiš in der Coronakrise. Mit seinem größtenteils sorglosen und aus politischen Gründen locker gehaltenen Corona-Management hat Tschechiens Premier in den vergangenen Wochen wesentlich dazu beigetragen, dass das Zehn-Millionen-Land nun einen regelrechten Corona-Tsunami erlebt. Mit mehr als 1.300 Infektionen pro 100.000 Einwohner  liegt das Land weit vorn im europäischen Vergleich. Nur Belgien erreicht derzeit ebenfalls die Eintausend-Marke.

Noch Ende August hatte Babiš behauptet, das Coronavirus sei schwächer geworden, und stolz verkündet, das öffentliche Leben in Tschechien sei viel freier als in anderen Ländern. Als der damalige Gesundheitsminister Adam Vojtěch nach steigenden Infektionen eine strengere Maskenpflicht anordnete, widerrief Babiš sie prompt. Bis im September die Zahlen explodierten.

Zwar entschuldigte sich Babiš inzwischen mehrfach öffentlich für seine falschen Einschätzungen der Coronakrise - am vergangenen Donnerstag während einer Pressekonferenz gleich fünfmal. Das klang allerdings jedes Mal rhetorisch. Für einen Rücktritt sah Babiš bisher keinen Grund.

Sprunghafter Anstieg auch in Ungarn, Rumänien und Bulgarien

Tschechien ist mit seinem schlechten Corona-Management ebenso wie mit Corona-Fehltritten seiner Regierungspolitiker nicht allein in Mittel- und Südosteuropa. Die Folge: Mit Ausnahme der baltischen Staaten sind die Infektionszahlen in fast allen Ländern der Region in den letzten Wochen sprunghaft gestiegen. Auch die Covid-19-Sterblichkeitsrate liegt dort teilweise deutlich höher als im EU-Durchschnitt, darunter neben Tschechien vor allem in Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien.

Einige der Ursachen:

  • In den meisten Ländern der Region mangelt es an Ärzten und Pflegekräften, von denen viele ins westliche Ausland abgewandert sind. Seit dem Frühjahr gibt es zwar Zusatzzahlungen, doch diese kurzfristige Maßnahme konnte den Trend nicht umkehren. 

  • Besonders schlecht ist die Situation derzeit in Polen. Mit 238 Ärzten auf 100.000 Einwohner (Stand: 2017) liegt das Land auf dem letzten Platz in der EU. Zudem hat sich aktuell viel medizinisches Personal mit Covid-19 angesteckt. Auch ist ein großer Teil der Intensivbetten in Krankenhäusern derzeit bereits belegt; angesichts sprunghaft steigender Infektionszahlen hat die Regierung in den vergangenen Tagen daher begonnen, Feldlazarette einzurichten. Erschwerend kommt für Polen hinzu, dass die Regierung in den vergangenen Monaten vor allem mit ideologischen Kämpfen beschäftigt war statt mit einem guten Corona-Management, im August trat außerdem der Gesundheitsminister Łukasz Szumowski wegen mutmaßlicher Beschaffungs- und Korruptionsaffären zurück. Zum schlechten Bild passt, dass sich Polens Staatspräsident Andrzej Duda mit Covid-19 infiziert hat.

  • Aus wahltaktischen Gründen wurden in diesem Sommer in einigen Ländern, darunter neben Tschechien auch in Serbien, Rumänien und Montenegro, Corona-Schutzmaßnahmen stark gelockert oder teils schlicht missachtet.

  • Oft legitimieren Politiker und hohe Beamte der Region den Bruch von Corona-Schutzregeln, weil sie sie selbst nicht einhalten. Die Palette reicht vom Nichttragen von Masken bis zur Missachtung empfohlener Reisebeschränkungen. Ein prominenter Fall ist Ungarns Außenminister Péter Szijjártó, der im Sommer heimlich auf einer Luxusjacht eines Orbán-nahen Magnaten in der Adria urlaubte, obwohl Ungarns Premier für die Bevölkerung die Ferienparole ausgegeben hatte: "Mehr Balaton, weniger Adria!"

Minister missachtet eigene Regeln

In Tschechien war es ausgerechnet der erst seit einigen Wochen amtierende Gesundheitsminister Roman Prymula, der seine eigenen strengen Corona-Regeln missachtete: Journalisten erwischten ihn am vergangenen Donnerstag kurz vor Mitternacht dabei, wie er ohne Maske aus einem Restaurant kam. Dabei müssen Restaurants geschlossen bleiben und dürfen nur bis 22 Uhr außer Haus verkaufen. Auch gilt mittlerweile in Tschechien im Freien nahezu überall eine Maskenpflicht. Ob das reicht, ist fraglich. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden am Sonntag 7301 neue bestätigte Fälle gemeldet - so viele wie an keinem Sonntag zuvor.

Der Premier stimmte die Bevölkerung deshalb am Montag auf noch härtere Maßnahmen ein. Diese Woche werde entscheidend sein: "Wenn kein Wunder geschieht, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Maßnahmen noch zu verschärfen", sagte Babiš in einem Social-Media-Video. Abends folgte dann die Entscheidung: Nun gilt nachts eine Ausgangssperre im Land.

"Neben dem allgemeinen chaotischen Corona-Management der Babiš-Regierung sind es auch solche Episoden, die das ohnehin nur noch geringe Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung noch weiter untergraben", sagt der tschechische Politologe und frühere Havel-Berater Jiří Pehe dem SPIEGEL. "Diese Erosion des Vertrauens ist sehr gefährlich, denn immer mehr Menschen in Tschechien weigern sich, Regierungsentscheidungen einzuhalten."

Gesundheitsminister Prymula in der Kritik: "Wasser predigen, Wein trinken"

Gesundheitsminister Prymula in der Kritik: "Wasser predigen, Wein trinken"

Foto:

Vit Simanek / imago images/CTK Photo

Babiš selbst schrieb auf Facebook, er sei "schockiert" von Prymulas Verhalten und werde ihn abberufen. Denn: "Wir können nicht Wasser predigen und Wein trinken."

Praktiziert hat Babiš das allerdings selbst: Im August erholte er sich mit seiner Familie auf Kreta, obwohl er seine Landsleute zuvor aufgefordert hatte, Urlaub nur in Tschechien zu verbringen. Die Begründung des Milliardärs: Er habe den Urlaub vor Corona gebucht, das Hotel sei bereits bezahlt.

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